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Was für ein Unterschied zu Panama Stadt mit ihren über 800'000 Einwohnern, wo der Blick oft kaum weiter als bis zur nächsten mit Zeichnungen und Sprüchen verzierten Hauswand reicht. Ihre Bewohner, die im Schatten von zwei Dutzend über 200 Meter hohen Hochhäusern emsig ihren täglichen Aufgaben nachgehen. Und eine immerwährende schwüle Hitze, die in den engen Gassen zu kleben bleiben scheint. Obwohl sauber und gut organisiert, fiel es uns nach einer knappen Woche Akklimatisierung erdenklich leicht, die Grossstadt per Bus auf holprigen Strassen gen Westen zu verlassen.
Pedasí, ein kleines, ruhiges, unfassbar sauberes und aufgeräumtes Dorf an der Pazifikküste Panamas eignet sich mit seinen vielen Stränden in der Umgebung und seiner verträumten, entspannten Art ideal, um in weiter Ferne auf der anderen Seite der Erdkugel anzukommen und in die Kultur Panamas einzutauchen beginnen.
Die Einheimischen lernen wir als äusserst hilfsbereite, freundliche, respektvolle und an uns interessierte Menschen kennen. Das Leben verläuft gemächlicher als in der Grossstadt, die Häuser sind kleiner und einfacher, der Motorenlärm weicht dem morgendlichen Bellen der Hunde und dem Krähen der Gockel.
In dieser Zeit erreicht uns die Nachricht, dass in einem nahegelegenen Surfcamp dringend Volunteers gesucht werden, um beim Bau eines Gästehauses mitzuhelfen. Nach einem kurzen Telefonat mit der Verantwortlichen bietet sie uns an, eine Woche zu probe arbeiten. Sehr daran interessiert, neue Fähigkeiten zu erlernen, Arbeiten durchzuführen, mit denen wir im Alltag sonst nicht in Berührung kommen, neue Menschen kennenzulernen, zu helfen, wo Hilfe gebraucht wird und nicht zuletzt um unser Reisebudget zu schonen, nehmen wir diese Möglichkeit dankend an. Doch zuerst liegt noch das Highlight Pedasís vor uns: ein Ausflug auf die Isla Iguana.
Die schneeweiss gegipste Aussenwand des kleinen Gästehauses blendet grell unter der hoch am Himmel stehenden Mittagssonne, während ich von Hand letzte Unebenheiten wegschleife, damit wir mit dem Streichen beginnen können. Seit nun gut einer Woche leben und arbeiten wir im Surfcamp und eine Art Alltagsrhythmus hat eingesetzt. Fünf Tage die Woche arbeiten wir von sieben bis zwölf Uhr und packen an, wo wir gebraucht werden. Das Gästehaus soll möglichst schnell fertiggestellt werden, weshalb wir, wie im Voraus kommuniziert, ohne jegliche Vorerfahrung auf der Baustelle eingesetzt werden. Nach kurzer Einführung zeigt Judith rasch viel Geschick und ein gutes Händchen beim Gipsen von Kanten, Rissen und Löcher, die beim Trocknen der Betonwand oder durch unsauberes Arbeiten der Maurer entstanden sind. Mir liegt der schon fast meditative Aspekt des Schleifens, mit viel Fingerspitzengefühl die zuvor aufgetragene Gipsschicht auszuglätten und einen perfekten Übergang zum darum liegenden Beton zu machen, sodass der Gips nur noch aufgrund des Farbunterschiedes als solchen zu erkennen ist, oder mit der Schleifmaschine und viel Kraft zuvor den Beton auf das Gipsen vorzubereiten. Es sind lehrreiche Vormittage und unsere Arbeiten werden allmählich schneller und besser, sehr zur Freude und Beruhigung unserer Chefs, die mit dem Einstellen zweier auf diesem Bereich so unerfahrenen Volunteers auch ein gewisses Risiko eingegangen sind.
Auch privat sind wir angekommen und fühlen uns wohl in unserem neuen Zuhause, insbesondere nach einer Neumöblierung unseres Zimmers sowie einer grösseren Putz- und Aufräumaktion des gesamten Hauses. Es stehen uns nicht viele Sachen zur Verfügung, einiges ist defekt oder arg in Mitleidenschaft gezogen, doch es reicht für einigermassen komplikationsfreies leben, kochen und schlafen.
Das Rauschen wird lauter, während die bereits gebrochene weisse Welle unaufhaltbar auf mich zurollt. Ich positioniere mich auf meinem langen Softboard in einem 90° Winkel zur Welle, senke den Kopf und beginne auf dem Bauch liegend noch schneller zu paddeln. Die Gischt macht es fast unmöglich, etwas zu sehen, doch ich spüre, wie mich die Welle erfasst hat. Unbeholfen stehe ich auf, viel zu langsam und umständlich, doch das lange Brett verzeiht meine Unerfahrenheit. Ein paar Sekunden kann ich die Welle reiten, bevor mich das schnell nahende Ufer zum Abspringen zwingt. Fast jeden Nachmittag fuhren wir nun nach der Arbeit mit dem Auto an den Strand, um surfen zu lernen. Einfach ist es nicht, setzt es doch viel Kraft, Technik, Timing und eine gewisse Unerschrockenheit voraus, doch wir merken, dass wir schnell Fortschritte machen. Auch das gelegentliche vom Brett fallen oder von den Wellen überrollt werden machen unserer Freude keinen Abbruch, insbesondere heute, wo uns nach Ablauf unserer Probewoche mitgeteilt wurde, dass man mit unserer Arbeit zufrieden sei und wir gerne für weitere sechs bis acht Wochen bleiben dürfen. Viel Zeit um anzukommen, einzutauchen in Guánico, neue Fertigkeiten zu lernen, Freundschaften zu schliessen und vor allem viel zu surfen.
Hoch konzentriert probiere ich mit Linda, dem 27 Jahre alten, sich langsam in Rost auflösenden Nutzfahrzeug des Chefs, den grössten Schlaglöchern auf der in der Regenzeit in Mitleidenschaft gezogenen Strasse vom Surfcamp zum Strand auszuweichen. Eine holprige, laute und abenteuerliche Fahrt in einem Auto ohne Fenster, Licht, Sitzgurte, Handbremse, Federung oder erstem Gang, dafür viel Staub, Charme und einem endlos langen Schleifpunkt. Freundlich rufen uns die Einheimischen zu oder heben die Hand, während sie in ihren Gärten arbeiten oder unseren Weg im Auto oder hoch zu Ross reitend kreuzen. Am Strand angekommen, begeben wir uns nach einer ausgiebigen Surfsession zur Cantina, wo uns lautstark panamaische Lieder aus grossen Musikboxen begrüssen und Balboa Bier und Abuelo Rum wie am Laufband über den Tresen gereicht werden. An einem Tisch wird gepokert, am anderen Domino gespielt, wir essen genüsslich Reis mit Gemüse, Hähnchen, Yucas und Patacones und spielen bis spät in die Nacht Billard am unebenen Tisch mit zerrissenem Tuch, treffsicherer mit jedem Schluck Balboa. Viel zu früh siegt die Vernunft und wir machen uns auf den Weg nach Hause. Schon nach der ersten Kurve, die Musik der Cantina und das Rauschen der Wellen noch in den Ohren, nimmt uns, wie fast immer, ein freundlich gesinnter Autofahrer per Anhalter mit und erspart uns so den knapp einstündigen Marsch zum Camp. Zufrieden schlafen wir schnell ein, das gleichmässige Summen des Ventilators das Bellen der Hunde und Krähen der Hähne übertönend.
Verkatert und übermüdet laufe ich zwischen den Regalen des stickig heissen Supermarktes in Tonosí auf und ab und suche mit immer grösser werdenden Frust vergeblich die paar wenigen Sachen, die wir privat benötigen. Zeitgleich kauft Judith die Lebensmittel für die WG, die Chefs und das Café ein, als unsere sichtlich gestresste Chefin den Laden betritt. Weshalb das so lange ginge, fragt sie, und wirft kurzerhand Sachen aus dem Einkaufswagen, was sie nun doch nicht bereit ist zu bezahlen, gibt uns in einer unverhältnismässigen Lautstärke wirre Anweisungen, während sowohl Mitarbeiter als auch andere Kunden innehalten und ihr zuschauen, um kurz darauf wieder beschämt wegzuschauen. Gleich zwei Volunteers haben innert kurzer Zeit wegen ihrer stressigen und sehr fordernder Art gekündigt, was zur Folge hatte, dass Judith mittlerweile vermehrt im Housekeeping statt auf der Baustelle eingesetzt wird und sich häufiger mit ihr und ihrer unklaren Kommunikation und teils sinnlosen Anweisungen konfrontiert sieht. Als die Chefin schliesslich mit Flüchen auf den Lippen und quietschenden Reifen zurück zum Surfcamp fährt und wir im Bus nach Cañas sitzend endlich unseren eigentlich freien Tag starten können, beginnen wir uns erstmals einen Plan B zurechtzulegen, sollten sich die Umstände noch weiter verschlechtern.
In der heissen Mittagssonne schwitzend kämpfen wir uns die letzten paar Dutzend Höhenmeter den steilen, unebenen Pfad zum einsam am Hang stehenden Baum hinauf, der auf Google Maps vielversprechend als mirador, als Aussichtspunkt, eingezeichnet war. Ein starker Wind weht, und im kühlen Schatten sind bald alle Strapazen vergessen, während wir den Blick in Richtung Osten über die vor uns liegende Landschaft schweifen lassen. Kühe und Pferd grasen gemächlich auf weit unter uns liegenden Weiden, während der Wind wellenartig durch die Halme streift und in der Sonne goldig reflektieren lässt. Dahinter schlängelt sich der Fluss, häufig verborgen unter grossen, saftig grünen Laubbäumen, langsam in Richtung Süden und mündet ins weite Meer, wo sich ein paar Surfer um von hier aus mickrig erscheinende Wellen tummeln. In weiter Ferne im Norden und Osten erheben sich weitläufige, sanft abfallende, dicht bewaldete Hügel und markieren so die Grenze des Valle Guánico. Knapp zwei Wochen sind nun vergangen nach dem unschönen Einkaufserlebnis mit der Chefin und nach den Festtagen ist auch endlich wieder mehr Ruhe eingekehrt im Surfcamp. Wir erledigen unsere Arbeiten gewissenhaft und so gut wir können, gleichzeitig probieren wir den Kontakt mit der Chefin während und vor allem ausserhalb der Arbeitszeiten aus Eigenschutz auf ein Minimum zu reduzieren. Dies und ausgiebige Wanderungen oder Ausflüge an unseren freien Tagen fernab des Surfcamps, unseres Hauses, des Strandes, sowie lieb- und weniger liebgewonnenen Menschen helfen uns wieder zu uns zu finden, abzuschalten und die Freude an Guánico mit seinen unzähligen schönen Seiten nicht zu verlieren.
Eine schier unendliche Hitze strahlt mir von der Glut der Feuergrube ins Gesicht, als ich die restlichen, mit der Machete zerstückelten Palmwedel ins lodernde Feuer werfe. Jeweils am 15. und 30. eines jeden Monates ist Feuertag in Guánico, mit dem Ziel, den lästig beissenden Rauch auf zwei Tage im Monat zu beschränken. Zu meinem grossen Glück hatte es jeweils vor den Feuertagen intensiv geregnet, was ein Abbrennen des vielen Holzes, Laubes, Unkrauts, Biomülls und Kartons verunmöglichte und sich immer mehr ansammelte. In mühsamer Arbeit habe ich am Vortag alles Brennbare vom Surfcamp zusammengetragen, zerkleinert und säuberlich nach Grösse und Brennbarkeit neben der Feuerstelle sortiert. Ein mächtiges Feuer, gut zwei auf zwei Meter breit und bis zu vier Meter hoch, ist ein befriedigender Lohn für meine Anstrengungen. Während gut fünf Stunden lodert das Feuer und bedarf meiner vollen Aufmerksamkeit. Ich alterniere zwischen mehr und weniger gut Brennbarem, drehe regelmässig die beiden 60 Zentimeter dicken und zwei Meter langen Stämme, die wir auf der Baustelle gebraucht hatten, um ein vollständiges Abbrennen sicherzustellen, trage das restliche Laub zusammen, reisse die letzten paar abgestorbenen gut zehn Meter langen Palmwedel ab und verscheuche vorzu Hühner und Küken, die viel zu nahe der Feuergrube nach Würmern suchen und sich dabei fast selber rösten. Gegen Mittag endet ein wunderschöner Arbeitstag der anderen Art und ich kehre ein letztes Mal das Feuer mit dem Rechen zusammen, mit der Gewissheit, dass die Hitze der Glut über die nächsten Tage noch sämtliche Reste verkokeln wird.
Wie aus dem Nichts beginnt sich die Welle langsam aufzubauen, bis ich eine gut zwei Meter hohe und hundert Meter breite grüne Wand aus leicht schäumendem Wasser vor mir auftürmt. Ein zurück gibt es nicht mehr, ich schlucke leer, richte mich auf meinem 6'8'' Hardboard aus und beginne aus voller Kraft zu paddeln, sämtliche Muskeln angespannt, sodass meine Brust das Brett kaum mehr berührt, den Blick starr auf einen grossen Baum am Ufer fixiert. Ich spüre, wie die Wasserwand mich erreicht, meine Geschwindigkeit ausreicht, platziere meine Hände eng an der Seite meiner Brust und richte meinen Oberkörper auf, mit leicht hohlem Kreuz wie ein Yogi bei seinen Atemübungen. Einen Bruchteil einer Sekunde verharre ich in dieser Position, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, stosse mich kraftvoll mit den Händen und Zehenspitzen ab und lande zielsicher mit beiden Füssen breitbeinig entlang der Mitte auf dem Surfbrett, die Knie angewinkelt, den Oberkörper aufgerichtet, die Arme ausgestreckt und den Blick immer noch auf den grossen Baum fixiert. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass die Welle links vor mir zu brechen beginnt, ich verlagere mein Gewicht nach vorne, drehe Schulter, Arme und Blick nach rechts und beginne, beinahe im freien Fall, die mittlerweile extrem steile, grün glitzernde Welle schräg runter zu surfen. Innert weniger Sekunden beschleunige ich mich auf ein atemberaubendes Tempo und setze meine Knie, Hüfte und Arme ein, um weiterhin ausbalanciert auf dem Brett zu stehen sowie meinen Kurs den Unregelmässigkeiten der Welle anzupassen und schon gebrochenen weissen Abschnitten auszuweichen. Den rasanten Drop überstanden, gebe ich meinem Brett mehr Freiraum und spüre, wie es sich von selber einen Weg zu suchen beginnt und sanft entlang der Welle dahingleitet, bis ich nach gut 20 Sekunden surfen mein Brett in Ufernähe über die markant kleiner gewordene Welle lenke und langsam sinken lasse, nur um sogleich wieder raus zu paddeln und nach der nächsten geeigneten Welle Ausschau zu halten.
Verschlafen und doch neugierig beäugt mich die Tropenkreischeule aus ihrem Nest, gut versteckt in einem langen, morschen Spalt des grossen abgestorbenen Baumes, dessen blattlose Äste sich wie viel zu lange Finger gleichmässig in der leichten Bise bewegen. Entlang des sichtbaren Teils der Wurzeln erstreckt sich ein Netz aus hell- bis smaragdgrünen Adern, das in der Abendsonne schimmernd die letzten Kraftreserven des Baumes verteilt. Lange Strassen daumennagelgrosser Ameisen führen vom weichen Untergrund unter die trockene, langsam abblätternde Rinde, während winzige, behaarte weisse Spinnen aufgeregt nach unvorsichtigen Insekten Ausschau halten. Seit unserer Ankunft in Guánico geht von diesem Baum eine grosse Faszination aus, thront er doch leicht erhöht in der Mitte eines von saftig grünen Laubbäumen umringten Maisfeldes auf der Spitze des gut 300 Meter hohen Hügels im Zentrum des ansonsten komplett flachen Valle Guánico. Und während am weit entfernten Strand eine Handvoll Surfer die letzten Wellen erhaschen und Brüllaffen in den naheliegenden Wäldern lauthals ihre Reviere markieren, sinkt die Sonne langsam wie ein blutroter Rubin hinter den Horizont und lässt die vereinzelten Schönwetterwolken in sämtlichen Rottönen erstrahlen.
Das abendliche warme Sonnenlicht lässt die Bäume in einem saftigen Grün erstrahlen, als wir nach kurzem Fussweg über weite Wiesen den Fluss erreichen. Kaum im erfrischenden Nass, entdecken wir kleine Kapuzineräffchen in der nahe gelegenen Baumkrone und hangeln uns wie Krokodile vorsichtig von Stein zu Stein im seichten Fluss, um sie nicht zu erschrecken. Gut zwei Dutzend Affen pflücken und fressen mit geschickten Händen kleine Nüsse, klettern zielstrebig Stämmen und Ästen entlang, springen von Baum zu Baum oder lausen sich gegenseitig das Fell, während wir sie dabei auf dem Rücken liegend beobachten und das Wasser unsere Körper umfliesst. Ein Moment der puren Entspannung und Erholung nach einem anstrengenden Arbeitstag und einer weiteren heftigen Auseinandersetzung mit unseren Chefs. Nicht zum ersten Mal überlegen wir uns, das Surfcamp zu verlassen und weiterzuziehen, doch wie immer wird uns wohl die Freude am Surfen davon abhalten.
Hellgelbe, kräftige Flammen steigen aus der rot und weiss glühenden Kohle auf, züngeln gierig am vielen staubtrockenen Schwemmholz und lassen den Strand in einem warmen Licht erstrahlen. Ich strecke meine Arme aus, atme tief ein und aus, nehme die beruhigende Weite der im hellen Mondlicht erleuchteten Umgebung in mir auf und spüre, wie sich langsam eine riesige Anspannung löst. Eine knappe Woche ist seit unserem letzten Arbeitstag im Surfcamp vergangen und wir hatten uns auf ein paar freie Tage mit Wanderungen, Surfen und einem grossen Abschiedsfest vor unserer Weiterreise gefreut, doch eine schwere Grippe, ausgehend von den Kindern der Chefs, machte uns einen fetten Strich durch die Rechnung. Auch auf Pedro war kein Verlass, der Judiths Anfang Januar gestohlene Bauchtasche mitsamt Inhalt fand, zu sich nach Hause in einem Vorort von Panama Stadt nahm und uns seitdem regelmässig mit einem neuen Datum vertröstet, wann er wieder nach Guánico fahren wird und uns die Bauchtasche zurückgeben kann. Auch eine gewisse Planlosigkeit, wie und wo wir den Rest unserer Zeit in Panama verbringen wollen, die Aussicht, wieder jeden Tag für Unterkunft und Essen bezahlen zu müssen sowie eine immer stärker werdende Wehmut, nach sechs Wochen Guánico mit liebgewonnenen Menschen und Natur zu verlassen, setzte insbesondere mir Tag für Tag mehr zu. So beobachtete ich die brechenden Wellen und verspüre nichts als Trauer, lag faul in der Hängematte und quälte mich morgens motivationslos aus dem Bett an einem Ort, wo alle nur lachen und glücklich sind. Doch nun, alleine am Lagerfeuer sitzend, umgeben von nichts als Natur, beginnt sich meine Lethargie und Selbstmitleid zu lösen. Ein Kapitel endet und ein neues wird beginnen, mit Platz für neue Erlebnisse und Begegnungen und ich bin überzeugt, dass es gut kommen wird.
Es ist kurz nach drei in der Nacht, als mich der böige Wind aus meinem unruhigen Schlaf reisst. Die Kälte des harten Bodens dringt durch die vom Tau feuchten Badetücher, auf denen ich liege und ich bemerke mit Unmut, wie mein Körper übersät ist mit neuen Insektenstichen. Der Hügel, auf dem ich mich für eine Nacht zu biwakieren entschieden habe, erhebt sich erstaunlich gut versteckt direkt hinter den Restaurants und Unterkünften des Playa Guánico. Eine fantastische Aussicht auf den gesamten Strand, breiten ruhigen Wellen, die gleichmässig vom Horizont zum Ufer rollen und das weitläufige, mit Bäumen und Büschen bewachsene Hinterland entschädigt bei weitem für die Unannehmlichkeiten meines Schlafplatzes. Während der Vollmond alles in ein fahles, weisses Licht taucht, strahlen die Sterne und Planeten am wolkenlosen Firmament in einer ungewohnten Helligkeit und ich beginne, weit unter dem grün, rot und blau funkelnden Sirius liegend, langsam wieder zufrieden einzudösen.
Der Tag hatte vielversprechend begonnen: anstatt mit Gepäck 20 Minuten vom Hostel zum Dorfzentrum zu laufen, um anschliessend auf den selten pünktlich fahrenden Bus warten zu müssen, nahm uns der Besitzer des Hostels mit seinem alten Pickup mit bis nach Soná. Die Fahrten nach Santiago, David und schliesslich ins Valle Hornito verbrachten wir dann jedoch in unglaublich engen Minibussen, entweder eingeklemmt zwischen lauthals telefonierenden Panameños oder auf einem kleinen Farbeimer im Gang sitzend und kaum Halt findend. Mit jeder Fahrt intensivierte sich auch der schweissige Geruch der abgestandenen, kaum zirkulierenden Luft sowie unser Wunsch, nun endlich anzukommen. Dementsprechend schnell sind wir nach dem erfrischenden Spaziergang und einer eiskalten Dusche, eingekuschelt in eine warme Decke eingeschlafen, während das am steilen Hang stehende, statisch und architektonisch sehr abenteuerlich gebaute Hostel bei jedem Windstoss ächzte und seufzte.
Begleitet von marineblauen Kolibris mit riesigen Schnäbeln sowie Papageien in allen möglichen Farben und Grössen laufen wir den Rest des matschigen Trampelpfades, der uns von Old Bank zum Wizard Beach führt. Schon bald erblicken wir durch die Wedel grosser Palmen das tiefblaue Meer. Wir betreten einen Strand wie aus dem Bilderbuch – der schneeweisse Sand glitzert in der prallen Mittagssonne, gleich dahinter beginnt ein dichter Dschungel mit riesigen, von Efeu und Lianen überwucherten Bäumen, Sträucher mit regenschirmgrossen saftig grünen Blättern, Orchideen, Iguanas und schattenspendenden Palmen. Das Zwitschern der in den Baumkronen Halt machenden Vögel wird regelmässig vom Grollen der grossen, wild brechenden Wellen übertönt. Kein Restaurant und kein Hotel verunstaltet diesen paradiesischen Ort und ausser uns sind nur eine handvoll Touristen zugeben sowie, aus welchem Grund auch immer, ein Polizist mit langer Hose, Kampfschuhen und Wachhund.
Bastimentos ist eine traumhaft schöne Insel mit fantastischen Stränden, ursprünglichen Primärwäldern und einem gemütlichen karibischen Feeling, das sich auch im lokalen, jamaikanisch angehauchten Dialekt widerspiegelt. Doch selbst hier können wir uns der Tatsache nicht entziehen, dass bald unser Visum für Panama abläuft und es nach gut drei Wochen Ferien wieder Zeit ist für eine Veränderung. Wir buchen auf Airbnb die günstigste Unterkunft in David, um ohne Ablenkung unsere weiteren Pläne schmieden zu können. Jedoch nicht, ohne vorher im auf dem Weg liegenden Valle Hornito ein paar weitere Trails zu erkunden.
Das Gebiet hinter dem Lost & Found Hostel, wo wir in einem Dorm mit schwindelerregend hohen Betten schlafen, überzeugt, wenn auch nicht mit der Instandhaltung der Wanderwege, dann sicherlich mit dem prächtigen Urwald und dem glasklaren, sehr erfrischenden Fluss, der sich hinter der Krete durch das nächste Tal schlängelt. Der zweite Trail, für den wir uns entschieden haben, führt uns im ein paar Kilometer südlich gelegenen, aber schon deutlich wärmeren Los Planes entlang des Rio Estí. Auf einfachen Wegen gelangen wir zu vier wunderschönen zwischen sieben und zwanzig Meter hohen Wasserfällen mit glasklaren Pools, die zum Reinspringen einladen. Erfrischt, erholt und motiviert fahren wir am nächsten Tag im komplett überfüllten Bus nach David, der nach Panama Stadt zweitgrössten Stadt Panamas.
Vom Aussichtspunkt gotogo lassen wir unseren Blick über die hügelige Landschaft schweifen, komplett überwuchert mit dickem Regenwald. In weiter Ferne fliegen in luftiger Höhe gelegentlich Papageienpaare vorbei und krächzen laut. Ansonsten ist es schon fast gespenstig ruhig. Drei Tage wandern im Corcovado Nationalpark hatten wir uns vorgenommen, doch vor Ort erfuhren wir, dass der Zutritt ausschliesslich mit zertifiziertem Guide gestattet ist. 85 Dollar pro Person, um jemandem hinterherlaufen zu dürfen, erschien uns dann doch etwas unverhältnismässig, weshalb wir uns entschieden, unsere Touren knapp ausserhalb des Parks zu planen. Fauna und Flora wissen ja schliesslich auch nicht, wo die Grenze verläuft und machen dort Halt. So spazierten wir am ersten Tag entlang des südlich verlaufenden Armes des Rio Tigre bis zu einem kleinen Wasserfall, wo das smaragdgrüne Wasser über Jahrhunderte tiefe Schluchten in den Stein gefressen hat. Tags darauf nahmen wir uns den westlichen Flussverlauf vor und tauschten uns mit den Goldschürfern aus, die auch heute noch, gut sechzig Jahre nach dem Ausbruch des grossen Goldfiebers in der Region, mit einfachsten Mitteln ihr Glück suchen. Begleitet wurden wir dabei von einem von uns Pedro getauften Hund mit Unterbiss wie ein Troll, der fröhlich mit uns durch den Fluss watete, stets den einfachsten Weg zu kennen schien, anstandslos auf uns wartete, wenn wir eine Pause brauchten und dafür auch eine grosse Portion von unserem Reis mit Gemüse bekam. Und heute, am dritten Tag, befinden wir uns im Hoheitsgebiet des Bolita Hostels, wo wir für zehn Dollar ein riesiges, sehr gut beschildertes Wanderwegnetz erkunden dürfen. Vor allem der westliche Teil hat uns mit seinen vielen kleineren und grösseren Wasserfällen, mit Moos und Lianen überwucherten alten Bäumen und dichtem grünen Busch besonders gut gefallen. In den drei Tagen sahen wir nebst vielen Papageien und Tukanen etliche grosse Schmetterlinge, in allen Farben glänzende kleine Frösche, teils giftig, und sogar eine 40 Zentimeter grosse Greifschwanz-Lanzenotter. Obwohl nicht annähernd so schön wie die Regenwälder auf Bastimentos, ist die Region zweifelsohne einen Abstecher wert, hoffentlich genauso wie Puerto Jiménez, wo wir unseren nächsten Halt einlegen werden.
Volunteermässig war nach sechs Wochen Ferien und Reisen endlich auch unser nächster Einsatz in trockenen Tüchern. Michael war rund um die Uhr beschäftigt mit der Beschaffung, dem Umbau und dem Papierkram des neuen Tauchschiffes, dementsprechend verlief unsere Kommunikation etwas stockend. Während wir in Dos Brazos fünf Minuten mit ihm telefonieren konnten, schickte er uns in Puerto Jiménez die Rahmenbedingungen, unter denen er sich eine Arbeit mit uns vorstellen kann. Die ersten drei Wochen wären wir fix im Monkey Park, der Wildtierauffangsstation, schlafen dort in einem grossen Zelt, bekommen Essen und helfen im Unterhalt des Gartens und sonstigen Projekten, die anfallen. Danach wären wir je drei Tage pro Woche im Monkey Park sowie in der Tauchschule, wo wir beim Tagesgeschäft mit anpacken und auch die Möglichkeit hätten, mit ihnen tauchen zu gehen. Trotz der möglicherweise langen Arbeitszeiten und einer Sechs-Tage-Woche haben wir ein gutes Gefühl und entscheiden, uns auf ein neues Abenteuer einzulassen. Mit viel Vorfreude auf eine hoffentlich abwechslungsreichere Arbeit als ständig nur gipsen, schleifen und streichen packen wir unsere Sachen, um durch halb Costa Rica nach Guanacaste zu reisen.
Die ersten drei Tage verbringen wir mit Julio, einem herzensguten, fröhlichen Mann fortgeschrittenen Alters, der uns auf Spanisch alles zu den Tieren und den Pflanzen zu erklären versucht, aus seinem Leben erzählt und sich freut aus unserem zu hören, ungeachtet unseres gebrochenen Spanischs. Da sich die Regenzeit hinzieht und die Bäume immer noch Blätter tragen, sind wir fast ausschliesslich mit Laub rechen beschäftigt. Eine Schubkarre nach der anderen befüllen wir mit Ästen, Laub, feuchter Erde, Ameisen und anderem Ungeziefer und kippen es auf einen grossen Haufen ausserhalb des Parks, wo es langsam zu nährstoffreicher Erde kompostiert. Eine kräftezehrende und schweisstreibende Arbeit, insbesondere unter der prallen Sonne in der Mittagshitze, doch der deutlich sichtbare Unterschied nach einem langen Arbeitstag ist ein dankbarer Lohn für unsere Anstrengungen. Und wenn der Park pünktlich um vier Uhr schliesst und wir kurz darauf die einzigen Menschen weit und breit sind, hören wir den Tieren innerhalb und ausserhalb der Gehege bei ihren Melodien und Rufen zu, während die abendlichen Wolkenbrüche aus dem Boden neues Leben hervorzaubern und einen süsslichen Duft freisetzen.
Tausende von Ameisen krabbeln über unser Zelt, während ich von innen, mit leicht ungutem Gefühl, die grössten Strassen herunterzuklopfen probiere. Ob der dicht ausschwärmenden Kolonie sehe ich kaum noch aus dem Zelt und gefangen wie ich bin, bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten und zu hoffen, dass sie keinen Weg ins Zeltinnere finden. Nach gut zwanzig Minuten hat sich die Situation etwas beruhigt und ich husche, vorbei an drei grossen Strassen, aus dem Zelt. Mit einem Chlor-Wasser-Gemisch schütte ich einen Ring um das Zelt, in der Hoffnung, ihre Pheromone zu neutralisieren und sie zum Anlegen einer neuen Strasse zu zwingen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit haben die Ameisen dann auch begonnen, fleissig mit an ihren Unterkörpern fixierten Larven in ihre neue Höhle zu migrieren, auf einer Strasse, die zu meiner grossen Erleichterung gut einen halben Meter an unserem Zelt vorbeiführt und alle paar Dutzend Zentimeter von einer fünfmal so grossen Ameise mit riesigen Mandibeln bewacht wird. So wie wir momentan leben, sind die vielen Ameisen wohl das grösste Problem. In der Aussenküche verräumen wir so viel wie möglich im Kühlschrank und den Rest in einer grossen Box, nachdem wir herausgefunden haben, dass sie dünnen Plastik durchbeissen können und wir sie beim zügigen Abtransport unseres Toastbrotes ertappten. Lästig sind auch die täglichen Gewitter, die den staubtrockenen Boden innert Minuten in ein kaum mehr passierbares Schlammbad verwandeln, die gewaschenen Kleider nicht mehr trocknen lassen und unzählige Moskitos anlocken, die freudig über jeden Quadratzentimeter nicht eingesprühter Haut herfallen. Die von uns Aragog getaufte Vogelspinne, die eine knappe Woche das Vorzelt mit uns teilte und jede Nacht einen neuen Ausgang aus ihrer Höhle grub, vorbei an den von uns sorgfältig platzierten Steinen, konnte zum Glück dann relativ leicht vertrieben werden. Julio füllte einen Zwanzig-Liter-Kanister mit Wasser und flutete damit erbarmungslos das aufwändig erbaute Tunnelsystem, woraus ziemlich rasch ein desorientiert wirkender Aragog hüpfte, von Julios Stiefel aus dem Vorzelt gekickt wurde und dort in eine Art Schockstarre verfiel. Behutsam hieben wir unseren ehemaligen Mitbewohner mit der Schaufel auf und platzierten ihn an einem schattigen Plätzchen, tief im Wald. Deutlich ungefährlicher sind die beiden Frösche Fritz und Franz, die in unserem Aussenbad wohnen, uns jedoch regelmässig erschrecken, wenn sie uns aus dem Duschknauf, der WC-Schüssel oder dem Waschbeckenabfluss entgegenspringen. Die zwischen Innen- und Aussenzelt lebende Kakerlake Berta Blerta sowie die Heuschrecke Hannibal werden toleriert und mit Gecko Becky sind wir eine Freundschaft am aufbauen, während der nächtliche Besuch eines Skorpions hoffentlich bei einem einmaligen Vergnügen bleibt. Sich nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag noch mit den unangenehmeren Seiten der Natur auseinandersetzen zu müssen, klappt freilich mal besser, mal schlechter, doch langweilig wird es uns zumindest nie.
Genug ist genug! Seit nun gut anderthalb Wochen arbeiten wir wie die Verrückten. Rechen Laub, buddeln Löcher, um limoneros zu pflanzen, die mit ihren Dornen Besucher abhalten sollen, zu nahe an die Gehege zu treten, schaufeln kleine weisse Steine in einen Schubkarren, um einen hübschen Weg zum Garten anzulegen, rechen wieder Laub, buddeln noch grössere Löcher, um sie mit Papayasetzlingen und Pferdekacke zu füllen und schleppen noch schwerere Steine, um einen Kreis um einen grossen, scheinbar heiligen Kapokbaum zu ziehen. Auf jeden Fall abwechslungsreich, ziemlich sicher auch sinnvoll, doch im Moment vor allem eines: zu viel! Die körperliche und psychische Müdigkeit, die auch nach für mich untypischen acht bis zehn Stunden Schlaf nicht verschwindet, die Arbeit in den Mittagsstunden, die doppelt und dreifach so kräftezehrend ist, die Hitze, die Sonne, die nervtötenden Insekten. Tagein tagaus dasselbe in einem Rhythmus, der ausser arbeiten, essen und schlafen für nichts anderes mehr Platz lässt. Etwas muss sich rasch möglichst ändern und nachdem ich nach dem Mittagessen komplett erschöpft für eine Stunde in der Hängematte döste, suchen wir das Gespräch mit Jonah, der rechten Hand Michaels vor Ort. pura vida meint der, einfach mal entspannen. Pausen machen, wenn man nicht mehr mag. Etwas Wein trinken, einen Joint rauchen, in die Hängematte liegen, worauf man halt gerade Lust hat. In der Mittagshitze im Schatten arbeiten oder auch gar nicht arbeiten, denn Deadlines sind ja sowieso nur unverbindliche Zeithorizonte. Wir merken, wie sehr uns Jianis striktes Regime geprägt hat, dass wir uns einen Teil des Stresses wohl auch selber zuzuschreiben haben und beschliessen, die Arbeit etwas gemächlicher anzugehen und nach dem Mittagessen erstmals Pause zu machen, um dann gegen Abend nochmal für ein, zwei Stunden zu arbeiten. pura vida, mal schauen, ob es so für uns besser geht.
Ich döse in der Hängematte, die ich gut zwanzig Meter vom Zelt entfernt zwischen zwei schattenspendenden Bäumen aufgehängt hatte. Die gelegentlichen angenehm kühlenden Luftstösse lassen mich sanft hin und her schaukeln, als ich ein Rascheln höre, meine Augen öffne und mich umdrehe. Ein graubraunes Eichhörnchen mit augenscheinlich ungemein weichem Fell und einem wuschigen Schwanz balanciert den Ast entlang, an dem die Hängematte befestigt ist. Zielsicher springt es auf den nächsten Baum, wo es mich, weniger als drei Meter entfernt und direkt oberhalb meines Kopfes, wohl etwas überrascht zum ersten Mal bemerkt. Gut zehn Sekunden schauen wir uns tief in die Augen, während keiner von uns sich auch nur im Geringsten bewegt. Die kleinen Ohren fadengerade auf mich ausgerichtet, den Schwanz leicht eingerollt und die spitzen langen Krallen den Ast fest umklammernd, verliert es alsbald das Interesse an mir, wendet den Kopf ab und klettert gemächlich weiter von Baum zu Baum, bis ich es in der Tiefe des Waldes aus den Augen verliere. In den unzähligen Stunden, die ich nun schon schreibend, lesend oder dösend in dieser Hängematte verbracht hatte, konnte ich einiges an wilden Tieren beobachten. Eine kleine Meise, die auf dem Spannseil landete und mich mit schrägem Kopf ausgiebig beäugte. Gemächlich watschelnde Iguanas, scheue Eidechsen, Schmetterlinge, Kolibris und Türkisbrauen-Motmots mit brillant glitzerndem Federkleid. Oder die gelegentlichen Rudel Brüllaffen, deren Rufe ich jeweils gerne imitiere, bis wir einander fast anschreien und der Mensch kaum mehr vom Affen unterscheidbar ist. Es lebt sich hier ganz gut mittlerweile, wir nehmen unsere eigenen Ratschläge zu Herzen, verausgaben nicht mehr bis zum Umfallen und können vermehrt auch wieder das geniessen, was uns neben der Arbeit sonst noch umgibt.
Zeit auch, mich ernsthaft und ohne Scham damit auseinanderzusetzen, was gemäss BAG jede fünfte Person in der Schweiz missbräuchlich konsumiert und gemäss einer viel beachteten Studie von David Nutt aufgrund des immensen Schadens sowohl am Konsumenten als auch an dessen Umfeld als gefährlichste Droge zu werten ist. Meine Geschichte dürfte wohl in der Studentenzeit, also vor knapp zehn Jahren, ihren Anfang genommen haben. Plötzlich kam es vor, mit oder ohne triftigen Grund auch unter der Woche zu Hause zu konsumieren, anstatt wie bis anhin nur zu speziellen Anlässen. Typisch für die Krankheit kam dieser Paradigmenwechsel schleichend und war somit auch umso schwieriger für mich als problematisch einzugestehen. Und mit dem Konsum steigt bekanntlich auch die Toleranz, weshalb noch mehr konsumiert wird, um die gewohnte und ersehnte Wirkung zu erzielen. Hinzu kommt, dass die Droge gesellschaftlich anerkannt und integriert ist sowie günstig und leicht zu beschaffen ist. All das führte dazu, dass zum Abendessen, zum Film schauen, zum Grillen mit Kollegen, zum Spieleabend, zum Feierabend oder wozu auch immer stets ein paar Bier gehörten und wenn die fehlten, fühlte sich etwas falsch an und ich konnte es weniger geniessen. In den darauf folgenden Jahren bemerkte ich, beispielsweise beim Verräumen der erschreckend hohen Anzahl leerer Bierdosen vom Vorabend oder des stechenden Schmerzes der verhärteten Leber, immer wie mehr die Problematik und das Risiko meines Verhaltens. Phasenweise hatte ich somit, häufig auch über längere Zeit, das Problem gut im Griff und lernte meinen Konsum einzuschränken. Doch irgendwann lösen sich auch die besten Vorsätze in Luft auf wie die Bläschen beim Bier und eine neue Umdrehung in der Spirale der Sucht beginnt. Dass ich seit der Ankunft in Zentralamerika viel zu viel und zu regelmässig konsumiere ist offensichtlich, lassen sich doch meine alkoholfreien Tage fast an einer Hand abzählen. Vor allem aufgrund der anstrengenden Arbeit übertreibe ich in der ersten Woche im Monkey Park regelmässig, in der Hoffnung, etwas Erholung und Ablenkung im Glas zu finden. Judith sucht zum wiederholten Mal das Gespräch und beklagt sich unter anderem über das unangenehme Gefühl, das sie zu spüren bekommt, wenn sie mir beim masslosen Trinken zuschauen muss. Ich stelle mir vor, wie ich es fände, wenn Judith auf den Abend immer wie rastloser würde, bis das erste Bier getrunken ist? Oder zornig, wenn dann nicht genug schnell das zweite folgt? Oder kaum mehr sich selbst ist, weil es ab dem dritten kein Halten mehr gibt? Traurig, schlimm und doch eine nur allzu vertraute Realität. In all den Jahren, in denen die eigene Gesundheit als Grund zum Aufhören nicht reichte, sollte nun Empathie eine zentralere Rolle spielen? Ich beschliesse, per sofort an sechs Tagen in der Woche keinen Tropfen Alkohol mehr zu konsumieren.
Wir begeben uns wieder einmal auf einen Abendspaziergang durch den menschenleeren Park. Ein Grossteil der gut dreissig, relativ grossen und sehr sauberen Gehegen, die sich etwas chaotisch auf dem durch uns gründlich entlaubten Gelände verstreuen, wird von Papageien bewohnt. Je nach Grösse geben sie zwitschernde bis laut krächzende Laute von sich, verstecken sich im hintersten Ecken oder verfolgen uns neugierig, wenn sie schon zu fest an Menschen gewöhnt sind, begrüssen uns mit hola und buenas oder rufen nach Jorge, wer das auch immer sein mag. Die wohl grössten Gehege bewohnen die beiden Raubkatzen, ein Margay und ein Ozelot, die trotz ihres gelangweilten Blickes eine majestätische Eleganz und imposante Kraft ausstrahlen. Kleine Sperlingskäuze und ein grosser Brillenkauz beobachten mit aufmerksamem Blick und grossen, runden Augen alle, die sich auch nur in die Nähe ihres Geheges wagen. Ein ständig umherturnender und teils aufrecht gehender Klammeraffe, ein Wildschwein und sogar ein Spitzkrokodil runden den Hauptbereich des Parks ab. Auf der anderen, weniger von Gästen frequentierten Seite, wo auch wir unser Zelt aufgeschlagen haben, befindet sich die ein halbes Dutzend Aren grosse Wiese von Susu. Wie mit sämtlichen Tieren wäre eigentlich eine menschliche Interaktion untersagt, doch der Weisswedelhirsch scheint die Streicheleinheiten und das Abschlecken unserer Hände mit seiner rauen Zunge sehr zu geniessen. Gleich daneben befindet sich der Hühnerstall, den wir täglich bei Sonnenuntergang schliessen, nachdem wir gelegentlich verwirrte Hühner aus den Bäumen pflücken müssen, die den Weg in den Stall nicht mehr gefunden haben. Eine Vielzahl von Tieren also, die wir 21 Dollar pro Person zahlenden Gästen näherbringen wollen, häufig aus illegaler Haustierhaltung stammen und möglichst rasch wieder ausgewildert werden sollen. Etwas, das sich in der Praxis teilweise als schwierig erwies, wie am Beispiel des Spitzkrokodils, das vor ein paar Jahren an einem gut zehn Kilometer entfernten Fluss ausgesetzt wurde, nur um eine knappe Woche später wieder beim Park aufzutauchen.
Zum wiederholten Mal schaue ich auf die Uhr, weniger als eine halbe Stunde ist vergangen seit meinem letzten Blick. Die Zeit scheint heute zähflüssiger zu verrinnen als kalter Honig und der Vormittag zieht sich ewig in die Länge. Ich bin gegenüber meinen Mitmenschen kurz angebunden, teils sogar aggressiv und jähzornig. Jede Kleinigkeit bringt mich in diesen Tagen auf die Palme, weshalb ich alleine arbeite und auch in der Freizeit Menschen meide. Ich sehne mich nach dem Mittag, nicht etwa wegen der Pause, nicht wegen des Essens, sondern weil meine Gedanken ständig nur noch um sie kreisen: meine erste Zigarette des Tages. Angespornt durch meine makellose alkoholfreie Woche habe ich mir für die letzte Woche im Monkey Park zum Ziel gesetzt, meinen Zigarettenkonsum drastisch zu reduzieren. Tabak, um nochmals dieselben Quellen zu bemühen, wird von jedem dritten Schweizer und jeder vierten Schweizerin regelmässig geraucht und liegt hinter Alkohol, Heroin, Crack, Meth und Kokain auf Platz sechs der schädlichsten Drogen. Wie wohl bei jedem Raucher wurde aus dem Genussmittel rasch ein Suchtmittel, dessen Konsum ich aber aufgrund der weiten Verbreitung in unserer Gesellschaft nicht weiter hinterfragte. Und während mir natürlich auch klar war, dass Rauchen ausschliesslich negative Folgen hat, jede Zigarette die Lebenszeit verkürzt und es deshalb besser wäre, schon heute und nicht erst morgen damit aufzuhören, stieg mein Konsum stetig während eines guten Jahrzehnts auf etwa zehn Zigaretten pro Tag. Selbst gedrehte freilich, mit deutlich weniger Tabak als fertig gerollte, aber schädlich nichtsdestotrotz. Man könnte meinen, dass in Ländern wie Panama oder Costa Rica, deren Anteil an Rauchern in der Bevölkerung mit durchschnittlich 4,3 Prozent mehr als dreizehn Prozentpunkte unter demjenigen der Schweiz liegt, oder wo die Beschaffung von Rolltabak, Papier und Filter ungemein schwieriger ist, mit dem Rauchen aufzuhören fast schon ein Selbstläufer sein sollte. Doch da ich durch das Rauchen keinen unmittelbaren Schaden erleide und nach wie vor sportlicher bin als die meisten Nichtraucher in meinem Alter, dauert es bis zur dritten Woche im Monkey Park, bis ich meine allererste bewusste Tabakreduktion in Angriff nehme. Da mir nach zehn Jahren fast täglichen Rauchens ein plötzlicher Stopp von einem Tag auf den anderen etwas zu krass und gefährlich vorkam, entschied ich mich, mir bis auf Weiteres nur noch eine Zigarette nach dem Mittag- und eine nach dem Abendessen zu gönnen.
Teils mit mehr, teils mit weniger Motivation absolvierten wir die im Vorfeld abgemachten drei Wochen im Monkey Park. Phasenweise äusserst anstrengend, kamen wir jedoch mit den Umständen je länger, desto besser zurecht und insbesondere ich schaute dem Tag, wo wir ihn verlassen werden, mit Missmut entgegen. Die dritte und vorerst letzte Woche plätscherte ohne grosse Aufreger im gewohnten Rhythmus vor sich hin und mit endlos viel Laub rechen an unserem letzten Arbeitstag schloss sich der Kreis. Da Michael mit unserem Einsatz sehr zufrieden war sowie aufgrund temporärer finanzieller Engpässe die meisten seiner Projekte auf Eis gelegt wurden, lud er uns ein, für eine Woche in einem Apartment in Playa Flamingo zu wohnen. Seinem Unternehmen wonderaway gehört dort nämlich ein kleiner Campus mit Massenschlag, zwei Wohnungen, einer Turnhalle und Umschwung mit fantastischer Aussicht, das jedoch alles bis zum offiziellen Start der Volunteer-Projekte für einheimische und ausländische Jugendliche brach liegt. Nach dem zeitraubenden Putzen einer Wohnung, die schon länger nicht mehr benutzt wurde, genossen wir die Tage am in 15 Minuten zu Fuss erreichbaren, wunderschönen Playa Flamingo, assen auswärts in leckeren Restaurants, spielten Volleyball oder Lacrosse in der Turnhalle oder lagen einfach nur faul im auf fast schweizerische Temperaturen heruntergekühlte Schlafzimmer. Soweit so gut, wäre da nur nicht diese innere Stimme, die mich zur fortlaufenden Konfrontation mit meinen Laster drängt und sich mit der im Monkey Park erarbeiteten Zwischenlösung noch nicht zufriedenzugeben scheint.
Zurecht, muss man doch meinen veränderten Umgang mit dem Alkohol als kompletten Reinfall bezeichnen. Obwohl sechs Tage am Stück Abstinenz an sich ein Fortschritt ist, wenn dann jedoch am siebten Tag gefühlt alles aufgeholt werden muss, ist das Ziel deutlich verfehlt. Zwei der drei Trinktage seit dieser Umstellung endeten in einem Debakel sondergleichen, sei es in Form eines Filmrisses wie bei pubertierenden Jugendlichen, die ihre Grenzen noch nicht kennen, oder der unbewussten Überordnung des Alkohols vor allem anderen, selbst den Bedürfnissen und Wünschen meiner Partnerin. Mir an gewissen Tagen den Konsum zu verbieten scheint zielführend zu sein, doch ohne Beschränkung der Menge an den anderen Tagen können schnell falsche Anreize entstehen. Bis ich wieder zu einem unproblematischen Umgang mit dem Alkohol zurückgefunden habe, limitiere ich meinen Konsum gemäss den Empfehlungen des BAG zum risikoarmen Trinken auf maximal ein Sechserpack Bier pro Woche. Ich hoffe, mit der Zeit wieder trinken zu können, um mir einen Moment oder ein Gefühl zu versüssen und nicht mehr einfach nur des Trinkens wegen. Ich wähne mich auf einem guten Weg und bin zuversichtlich, nicht auf komplette Abstinenz zurückgreifen zu müssen.
Einen deutlich anderen Verlauf nahm meine Auseinandersetzung mit dem Nikotin. Um mein Umfeld nicht zu sehr zu strapazieren, erhöhte ich nach wenigen Tagen meinen täglichen Zigarettenkonsum wieder auf drei Stück. Während ich bis vor kurzem knapp alle zwei Stunden das Verlangen nach einer Zigarette spürte, überstand ich nun die ungewohnt langen Rauchpausen von etwa sechs Stunden erstaunlich unproblematisch. Mit etwas Willenskraft war ich einigermassen ausgeglichen, voll funktionsfähig und begann mir vorzustellen, wie es wäre, komplett mit dem Rauchen aufzuhören. Ich begann, mich auf Reddit einzulesen, wo in unzähligen Beiträgen auf die Wichtigkeit hingewiesen wurde, sich ab der letzten Zigarette unmittelbar als Nichtraucher zu identifizieren, anstelle als jemanden, der lediglich probiert damit aufzuhören. Im Weiteren wurde Allen Carrs Buch «Endlich Nichtraucher!» aus dem Jahr 1985 in höchsten Tönen gelobt, in dem der Autor, ehemaliger Kettenraucher mit einem Konsum von hundert Zigaretten pro Tag, seine Methode beschreibt, wie er das Aufhören problemlos meisterte. Als ich wenige Tage später in einem Schweizer Magazin, das ich seit dem Dezember herumschleppe, auf denselben Buchtipp stoss, lud ich mir das eBook von der resilienten Torrentseite meines Vertrauens herunter und las am Ostersamstag am Playa Flamingo die gesamten 200 Seiten von Anfang bis Ende fasziniert durch. In sehr einfachem Englisch und bildlicher Sprache teilt er die Problematik auf zwei Bereiche auf: der Nikotinsucht zum einen und der Gehirnwäsche zum anderen. Unter der Nikotinsucht versteht er die körperlichen Aspekte und macht klar, dass es sich beim Rauchen um nichts weniger als eine Drogenabhängigkeit handelt. Man opfert nichts, wenn man damit aufhört, sondern befreit seinen Körper von einem Gift. Glücklicherweise führe die Abwesenheit dieses Gifts zu praktisch keinen Entzugserscheinungen auf körperlicher Ebene, die meisten spüren kaum etwas. Unter der Gehirnwäsche versteht er die psychischen Aspekte, die Illusionen, denen sowohl die Gesellschaft als Ganzes als auch wir als Individuen ausgesetzt sind. So zum Beispiel die Illusion der Entspannung, denn entspannen konnte man freilich schon, bevor man überhaupt mit dem Rauchen anfing. Rauchen entspannt nicht, es lindert lediglich die Entzugserscheinungen. «Smokers aren't relaxed. They've forgotten what it feels like to be completely relaxed.» Oder auch der Aspekt der freiwilligen Versklavung, der man sich unterwirft. Man lässt das Nikotin seinen Tagesablauf bestimmen. Man kann keinen Aktivitäten mehr nachgehen, wo für längere Zeit nicht geraucht werden kann. Man ist darauf angewiesen, stets Zigaretten dabei zu haben und wird andernfalls nervös. Nicht zuletzt das Finanzielle, denn was monatlich gesehen gar nicht so teuer scheint, wäre in meinem Fall die stolze Summe von 20'000 Schweizer Franken, die ich für das Vergiften meines Körpers ausgäbe, würde ich weitere 50 Jahre rauchen. Unter dem Strich plädiert Carr, nicht aufgrund der schädlichen Aspekte des Rauchens aufzuhören, sondern vielmehr der guten Sachen wegen, die einen als Nichtraucher erwarten. «The whole business of smoking is like wearing tight shoes just to obtain the pleasure you feel when you take them off.» Auch der Nikotinreduktion widmet er ein Kapitel und rät darin dringend davon ab, da es die Illusion der Zigarette als Möglichkeit zur Entspannung und Belohnung aufrechterhält und man sich die restliche Zeit nur unnötig selber foltert. Hat man sich erst das richtige Mindset angeeignet, ist der effektive Rauchstopp dann denkbar geradlinig. Sämtlichen Tabak entsorgen, sich schwören, nie wieder Nikotin zu konsumieren, auch nicht nur ein Zug, die letzte Zigarette rauchen, sich als Nichtraucher zu identifizieren, normal weiterzuleben und andere Raucher mit Mitleid zu betrachten. Ich beschloss, Nägel mit Köpfen zu machen und rauchte am Ostersonntag, den 9. April, meine letzte Zigarette.
Die folgende Woche verlief besser als erwartet und schwieriger als erhofft. An das Rauchen dachte ich in dieser Zeit teils häufiger, teils gar nicht. Sobald das Verlangen aufkam, eine Zigarette zu rollen, führte ich mir vor Augen, dass ich mittlerweile ja Nichtraucher bin. Begleitet von entweder Gefühlen der Freude und Erleichterung oder der Wut und Verzweiflung liess ich den Gedanken gehen und probierte, mich mit etwas anderem zu beschäftigen. Das Mindset gegenüber dem Rauchen bewusst verändert zu haben, erwies sich als unverzichtbare Stütze, ohne die das Vorhaben aussichtslos geworden wäre. Mir persönlich half insbesondere das Argument der freiwilligen Versklavung beziehungsweise der schrittweisen Befreiung, sowie die Illusion des Nikotins als Beruhigungsmittel, wenn die Nerven mal wieder blank lagen. Wie von Carr vorhergesagt, spürte ich keinerlei körperlicher Entzugserscheinungen, der Kampf gegen das Gift tobte ausschliesslich im Kopf. Wenn jedoch mit Alkohol und Nikotin von einem Moment auf den anderen die zwei Suchtmittel wegfallen, an deren regelmässigen Konsum ich mich seit einem Jahrzehnt nun fest gewöhnt habe, führt auch kein Weg mehr daran vorbei, sich mit den Gründen auseinanderzusetzen, weshalb das überhaupt so weit kommen konnte. Während ich wie alle Kinder als Gefühlsmensch auf die Welt kam, würde ich mich seit dem jungen Erwachsenenalter eher als Kopfmenschen bezeichnen. Es fällt mir deutlich einfacher, bei Entscheidungen meinem Verstand zu folgen als meiner Intuition und meinen Gefühlen zu vertrauen. Während ein Mittelweg am zielführendsten ist, neigen jedoch Bauchmenschen dazu, ihre Ration ausser Acht zu lassen, sowie Verstandesmenschen dazu, ihre Emotionen nach Möglichkeit auszuschalten. Etwas, das mit dem Konsum von Suchtmitteln nur allzu leicht erreicht werden kann. Genauso wie beispielsweise zwanghaftes Verhalten oder Perfektionismus, eignet sich das Betäuben mit Alkohol oder Nikotin ideal dazu, um ein Gefühl, das gerade hochkommt, nicht fühlen zu müssen und erfolgreich zu verdrängen. Vergleichbar mit einer dicken Wolldecke, in die man seine Emotionen einwickelt, unterdrückt man so sämtliche Gefühle, sowohl die angenehmeren wie Freude, Stolz und Liebe als auch die unangenehmeren wie Angst, Trauer und Wut. Diese beruhen alle massgeblich auf unseren tiefsten Wünschen, Hoffnungen, Bedürfnissen und Ziele. Wenn man also nicht mehr spürt, was man fühlt und weshalb, ist dies insbesondere deshalb problematisch, weil man riskiert, zentrale Bedürfnisse und Sehnsüchte unerfüllt zu lassen. Mir wird klar, dass diese innere Auseinandersetzung deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen wird als der eigentliche Entzug an sich und mich mit grundlegenden Fragen meines Seins und meiner Ziele konfrontieren wird. Doch der Stein wurde ins Rollen gebracht und mit Freude, Trauer, Scham und Demut im Bauch schaue ich nach vorne.
Ohnehin sind wir ja nicht nach Tamarindo gekommen, um uns im Zimmer zu verkriechen, sondern um zu arbeiten und zu helfen. So jedenfalls der Plan. Es wäre eine willkommene Abwechslung zu den zwei nervenaufreibenden und eher tristen Wochen in Playa Flamingo gewesen, doch so wie alles andere in Costa Rica scheint auch eine Banküberweisung länger zu dauern, als man es sich vorstellt. In der Zwischenzeit hat Michael nämlich von seinem Investor eine Geldanleihe über 50'000 US$ versprochen bekommen, doch bis das Geld auch wirklich angekommen ist, müssen sich die grossen Projekte weiterhin gedulden. Der knapp 30 Quadratmeter grosse und etwa drei Meter tiefe Pool jedoch, in dem Tauchschüler an die Ausrüstung gewöhnt werden sollen, bedarf dringend einer gründlichen Putzaktion. Im hellgrün schimmernden Wasser schweben nicht genau identifizierbare weisse flockige Partikel, am Boden sammelt sich Laub, Blüten sowie sonstiger Dreck und die Sicht reicht knapp noch bis zur ausgestreckten Hand. Doch bevor man sich mit Chemikalien und Wassersauger diesen Problemen widmen kann, müssen erst die Algen weggeschrubbt werden, die sich in den Fugen zwischen den daumennagelgrossen Plättchen an den Seiten des Pools festgesetzt haben. Ausgerüstet mit beinahe leeren Pressluftflaschen, die wir bis fast zum letzten Atemzug aufbrauchen sollen, Regulator, Jacket, Maske, 20 kg Blei sowie einer Stahlbürste machen wir uns an die Arbeit, die gut 60 Quadratmeter auf Hochglanz zu schrubben. Anfangs recht ungewohnt, völlig überbleit zu sinken wie ein Stein sowie unter Wasser zu laufen, statt mit den Flossen zu schlagen, kommen wir rasch in einen angenehmen Rhythmus. Komplett abgeschottet von der Aussenwelt hören wir nur noch das Blubbern der ausgeatmeten Luft, die langsam emporsteigt, sehen die hellblauen Kacheln, die im Tunnelblick immer wie mehr ineinander verfliessen zu scheinen und spüren den sanften Gegendruck der Bürste, die in langen gleichmässigen Bewegungen den Fugen entlang gleitet. Wir lassen die Gedanken wandern und verlieren uns in der Gleichmässigkeit der Aufgabe. Gut acht Stunden haben wir insgesamt im Pool verbracht und was sich im Moment eher nach Meditation als Arbeit anfühlte, wandelte sich über Nacht in einen Muskelkater sondergleichen. An einem anderen Tag halfen wir Michael bei der Reinigung des neuen Tauchschiffes. Die paar Flecken Vogelkot waren jedoch mit dem Hochdruckreiniger erdenklich schnell weggepustet, was ihm genügend Zeit liess, uns das Schiff voller Stolz zu präsentieren. Gekauft in Jamaika und auch dort schon im Einsatz als Tauchschiff, ist «too tanked» ein etwa zwölf Meter langes, doppelstöckiges Prachtexemplar mit zwei Frischwasserduschen und Platz für bis zu 26 Taucher mit Ausrüstung. Ausgestattet mit modernsten Navigationsgeräten, Funk und Sicherheitswesten, fehlen bis zur Zulassung und Absegnung durch die zuständige Behörde nur noch das Notfall-Beiboot, das jedoch schon seit Wochen am Zoll Costa Ricas stecken geblieben ist und auf die regelmässigen Nachfragen Michaels stets sehr bald abgefertigt werden könne. Während also alles noch etwas Geduld braucht, verbringen wir unsere viele freie Zeit damit, Tamarindo zu entdecken.
Ganz im Stile einer internationalen Touristenhochburg säumen zahllose Souvenirläden, Boutiquen, Märkte, elegante Restaurants und Bars die einwandfrei sauberen Strassen im Stadtkern. Obwohl selbst für die Verhältnisse in Costa Rica hoffnungslos überteuert, werden sie rege von knapp bekleideten Touristinnen und Touristen aus aller Welt frequentiert. Auch wir lassen uns nicht lumpen und während Judith beinahe ihre gesamte Garderobe in einem Secondhand-Laden erneuert und einer handgemachten Halskette verfällt, leiste ich mir eine von einem lokalen Künstler erstelle Strandszenerie mit Palmen, gemalt mit nichts anderem als Kaffeesatz. Zudem statte ich mich mit drei Kilo Draht, hundert Gramm Bienenwachs und einem Fläschchen knallrotem Nagellack aus, um verschiedene Projekte weiterzuführen, sobald wir wieder zurück im Monkey Park sind. Michael ermöglicht es uns in dieser Zeit, alles auszuprobieren, was vorhanden ist. So lassen wir uns an einem freien Tag auf seinen zwei aufblasbaren SUP mit der kommenden Flut tief in die Mangrovenwälder entlang des Mündungsgebiets des Playa Grande hochtreiben. Ohne Stress und im eigenen Tempo geniessen wir die unberührte Natur, paddeln auf den schmalen Brettern durch jeden noch so kleinen Zufluss und halten Ausschau nach Krokodilen. Wir machen uns insgeheim über die vielen Touristen lustig, die in überfüllten Booten den Fluss rauf und runter geschippert werden, beneiden sie dann jedoch, sobald es darum geht, uns entgegen der Strömung wieder zum Flussdelta zurückzukämpfen. Die meiste Zeit jedoch verbringen wir am Playa Tamarindo, wo einheimische Familien grosse Grillfeste veranstalten, Touristen sich in die pralle Mittagssonne legen, Kinder am sanft abfallenden Ufer spielen und Erwachsene sich in die grossen Wellen stürzen. Am nördlichsten Ende des knapp zwei Kilometer langen Sandstrandes herrschen insbesondere in der dritten und vierten Stunde nach Ebbe nahezu perfekte Bedingungen zum Surfen. Mit Michaels acht-Fuss Softboard, das ich jeweils gute zwanzig Minuten auf dem Kopf durch ganz Tamarindo bis zum Strand balanciere, hüpfe ich über den heissen Sand hinein in das erfrischende Nass. Watend passiere ich die zahllosen Surflehrer, die ihre Gäste auf dem Brett anstossen und sie lauthals anfeuern, paddle durch die Brandung, vorbei am gesamten Lineup und warte etwa zwanzig Meter weiter draussen geduldig auf das nächste Set. Im Funkeln der Reflexion der langsam untergehenden Sonne sehe ich, wie sich das Meer etwas anhebt und richte mein Brett aus. Wellen, die ich mich in Guánico niemals anzupaddeln getraut hätte, scheinen hier im Bereich des Möglichen zu liegen. Voller Überzeugung steche ich mit den Händen ins Meer, immer und immer wieder, bis ich ausreichend Fahrt aufgenommen habe. Ich spüre, wie mich die sich nun schnell aufbauende Welle erfasst hat, richte mich auf und springe auf das Brett. Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen, gleite ich wie auf frisch gefallenem, samtweichen Pulverschnee parallel der smaragdgrünen Welle entlang und lasse mein Brett einen Weg entlang der Mittellinie der Welle finden. Unaufhaltsam kommt der Moment, wo die Welle zu brechen beginnt und ich gehe noch tiefer in die Knie, um in der Gischt nicht mein Gleichgewicht zu verlieren. Ich mache einen kleinen Schritt rückwärts, um mehr Stabilität zu erhalten und surfe durch das Lineup, das mir grösstenteils einen Weg entlang meiner Welle frei macht. Zum Schluss reicht es sogar noch für einen kurzen, wackeligen Kopfstand auf der vorderen Hälfte des Bretts, bevor ich mich überglücklich in das seichte Wasser fallen lasse. Wir geniessen die letzten Strahlen der feuerroten Sonne, die langsam hinter dem offenen Meer untergeht und bestaunen die kitschig pinken abendlichen Schönwetterwolken. Während die Feuerkünstler bereits ihre Stäbe, Pois und Ringe bereitlegen, brauchen wir uns nur noch zu entscheiden, wo wir essen wollen. Leckere Spiesse mit hausgemachter Sauce, frisch zubereitet vom Grillmeister am Strassenrand? Gehaltvolle Burger mit knusprigen Pommes Frites in einem Restaurant mit Meerblick? Oder doch eher Reis mit Gemüse für unschlagbare 2'000 CRC, aufgewärmt an einem improvisierten Essensstand von einer leicht nervösen, jungen Frau mit leuchtend blauen Augen, die aussieht, als hätte sie in ihrem Leben schon einiges durchgemacht und es auch mit den Hygienevorschriften nicht ganz so genau nimmt.
Und schon wieder schreien Judith und ich uns an aus Gründen, die bereits längst vergessen sind. Ich merke, wie ich seit ein paar Wochen merklich sensibler bin und schon auf Kleinigkeiten beleidigt reagieren kann. Es ist kein bewusster Entscheid, was ich früher lieber herunterschluckte und zu ignorieren probierte, muss nun raus und angesprochen werden. Im Grundsatz kein schlechter Wandel, doch er kam abrupt und unangekündigt. Während Judith mir eine Zeit lang einiges verzeihen konnte, wurde auch ihr Geduldsfaden verständlicherweise je länger, desto kürzer. Und wenn plötzlich der Grossteil der Kommunikation nicht mehr liebevoll und freudig, sondern kritikbehaftet und aggressiv ist, verschwindet jegliche Empathie sowie das Interesse, auf die Gefühle des Gegenübers Rücksicht nehmen zu wollen. Erschwerend kommt hinzu, dass wir seit nun fünf Monaten praktisch 24 Stunden am Tag zusammen sind. Schön und gut, vor allem wenn wir arbeiten, Sport treiben oder sonst was läuft, aber im Moment einfach zu viel Nähe und zu wenig Rückzugsmöglichkeiten. Wir merken zudem, wie wir die Natur vermissen. Das befreiende Gefühl wieder zu spüren, im Zelt in der Wildnis mit unzähligen Tiergeräuschen in den Ohren einzuschlafen, anstatt in einem stickigen Lager in einem Betonhaus in der Stadt. Das alles führte dazu, dass Sachen gesagt wurden, die gar nicht so gemeint waren, wir uns stundenlang anschwiegen und aufs Gröbste ignorierten oder jemand auf dem Fahrrad die Flucht ergriff, um wieder etwas herunterzukommen. Freilich wäre es einfacher, wie wohl bei jedem Streit, dem Gegenüber sämtliche Schuld in die Schuhe zu schieben. Doch davon handelt diese Geschichte nicht. Ich möchte verstehen, weshalb ich in bestimmten Situationen so schnell getriggert werden kann und beginne, mich in diverse Konzepte aus der Psychologie einzulesen. Ich meditiere regelmässig und probiere, meinem Körper zuzuhören, wenn er etwas zu sagen hat. Akzeptiere jegliche Gefühle, insbesondere auch Trauer und Wut, und gebe ihnen den Platz, den sie benötigen und verdienen. Zumal ja auch bei weitem nicht alles Negativ ist. In meiner Tendenz, meinen eigenen Ansprüchen nicht genügen zu können sowie mir selbst zu wenig Anerkennung zu schenken, blende ich alle Errungenschaften aus. Und davon gibt es ja aktuell mindestens zwei riesige. Bald bin ich seit einem ganzen Monat konsequent nikotinfrei. Wofür andere mehrere Anläufe brauchen, klappte bei mir dankenswerterweise auf Anhieb. Ich akzeptiere, dass es mich ab und zu nach einer Zigarette gelüstet, vor allem auch, da ich weiss, dass ich dieser Versuchung niemals nachkommen würde. Meine Zeit des Nikotins ist vorbei, lebenslänglich, und das ist auch gut so. Und sogar beim Alkohol hat sich das Blatt deutlich gewendet. Plötzlich war eine Woche um und ich realisierte, dass ich in dieser Zeit lediglich ein einziges Bier zu einem fantastischen Sonnenuntergang genoss. Es bereitete mir keinerlei Mühe, es bei diesem einen Bier zu belassen und an den anderen Tagen dachte ich nicht einmal daran. Es überrascht mich, wie schnell das Verlangen verschwand und bin froh, dass Alkohol in meinem Leben keine zentrale Rolle mehr zu spielen scheint. Im steten Bestreben, bewusst auf diesem guten Weg zu bleiben, packe ich voller Vorfreude meinen Rucksack. Denn just in dem Moment, wo wir Michael vorschlagen wollten, wieder in den Monkey Park zu zügeln, hat er uns angefragt, ihn bei dortigen Projekten zu unterstützen.
Die Freizeit ist reichhaltiger. Ich verspüre mehr Energie und bin motivierter als üblich. Mit Freude widme ich mich anderen Projekten. Beispielsweise dem Bau eines Didgeridoo. Fasziniert davon, wie Jonah und Haime alles aus Bambus herzustellen scheinen können, begann ich beim letzten Aufenthalt im Monkey Park etwas zu recherchieren und stiess dabei auf eine Anleitung zur Herstellung eines Didgeridoo aus Bambus, die mir nicht allzu schwierig vorkam. Ich schnitt mir ein etwa sechs Fuss langes Stück zurecht, das oben und unten jeweils kurz vor den Membranen endet und einen Innendurchmesser von etwa zwei Zoll hat. Mit einer Eisenstange mit Gewinde stocherte ich so lange im Didgeridoo herum, bis sich die inneren drei Membranen lösten und ich mit dem Gewinde die Innenwand ausreichend fein abgeschmirgelt hatte. Einen Ton brachte ich dazumal schon heraus, doch ohne Mundstück war ein sattes Anlegen der Lippen kaum möglich. Mit etwas Herumfragen fand ich in Tamarindo zum Glück etwas Bienenwachs, um das Didgeridoo nun zu vervollständigen. Einen kleinen Teil lasse ich in einer Aluschale auf dem Gasherd komplett schmelzen und tunke, ähnlich wie beim Kerzenziehen, den Bambus mehrmals im heissen Wachs, um darauf das Mundstück zu fixieren. Um dieses herzustellen, erwärme ich einen Klumpen langsam im Wasserbad, bis er zu einem etwa einen Zentimeter dicken Ring mit Durchmesser des Bambusrohres geformt werden kann. Vorsichtig drücke ich diesen auf das mit Wachs getränkte Ende und bringe mit den Fingern das Mundstück in seine endgültige Form, bevor es komplett aushärtet. Das Instrument lässt sich jedoch nur marginal besser spielen. Ich vermute, dass es etwas zu lang ist und vor allem einen zu grossen Innendurchmesser aufweist und stelle aus einem anderen Bambus ein zweites Didgeridoo her. Schon ohne Mundstück merke ich, dass es eher quietschige Trompetentöne von sich gibt statt des erhofften tiefen Basses und mache mich direkt an die Arbeit für ein drittes Didgeridoo. Ähnlich kurz wie das zweite, aber mit dem grösseren Durchmesser des ersten, klingt es erstmal verheissungsvoll. Mit der Herstellung des Mundstückes gebe ich mir besonders viel Mühe und schaue, dass ich damit nicht versehentlich den Durchmesser verkleinere. Obwohl gut einen Fuss kürzer als das erste, hat es einen ähnlich satten tiefen Ton, doch auch hiermit scheint eine Zirkularatmung unmöglich. Ich recherchiere abermals und lese, dass Didgeridoos aus Bambus im Vergleich zu denen aus Eukalyptus einen viel geringeren Gegendruck aufweisen und dementsprechend eine deutlich dickere Wand haben sollten. Fazit: Drei Didgeridoos gebaut, zwei davon spielbar, keines richtig, doch einiges gelernt und Spass gehabt. Ähnlich verlief das Formen der Bäume aus Draht. Nachdem ich in Tamarindo wunderschön verdrehte und filigran mit Nagellack bemalte Skulpturen entdeckte, nahm ich mir vor, das selber auszuprobieren. In einer ferreteria hatte ich für 1'500 CRC drei Kilo des dünnsten Drahtes gekauft, dessen 1.5 mm Durchmesser sich aber schon bei den ersten Versuchen als deutlich zu dick herausstellt. Auch der 1 mm dicke Draht, der in einer Ecke der Werkzeugkammer des Monkey Parks verstaubte, lässt sich nicht viel einfacher von Hand verbiegen. Nichtsdestotrotz mache ich mich mit Zange, Drahtschneider, viel Kraft und Geduld an die Arbeit. Obwohl ich die Äste nicht annähernd so fein verdrehen kann wie die Künstlerin aus Tamarindo, um sie anschliessend mit dem Nagellack zu bemalen, merke ich rasch, wie unglaublich entspannend die Tätigkeit ist. Ohne Vorgabe, ohne Ziel und ohne Zeitdruck aus vielen einzelnen Drahtstücken etwas Neues zu formen hat etwas beruhigendes an sich. Jeden Strang so zu verbiegen, dass es als Ganzes aus allen möglichen Blickwinkeln interessant wirkt. Ich mag die Leichtigkeit, mit der eine Form erstellt und auch wieder verändert werden kann, die Einfachheit des Materials, mit der etwas Komplexes erschafft wird. Ich kreiere zwei solcher Bäume aus Draht und bin zufrieden.
In der schnell eindunkelnden Dämmerung erkennen wir immer wie deutlicher das wahre Ausmass des Feuers. Am gegenüberliegenden Südhang des komplett mit saftig grünem Dschungel bewaldeten Tals beobachten wir, wie sich die Flammen immer wie mehr ausbreiten. Wie ein Glimmbrand auf Stahlwolle dehnt sich das Feuer kreisförmig aus und lässt die Bäume und Sträucher in meterhohen Flammen aufgehen. Ein spektakulärer Anblick sondergleichen. Nach einer guten Stunde ist ein Bereich verbrannt, der sich auf einer Fläche gross wie mehrere Fussballfelder von der Talsohle bis zur Krete erstreckt. Auch auf dem Nordhang, wo wir uns befinden, zeugen der staubtrockene, schwarz verkrustete Boden sowie abgebrannte Gräser und Büsche von der zerstörerischen Kraft des Feuers, das vor wenigen Tagen hier gelodert haben muss. Es scheinen sich jedoch um gewollte und kontrollierte Brände zu handeln. Den wenigen Einheimischen, die gemütlich dem Pfad entlang durch das Tal in Richtung Feuer spazieren, ist jedenfalls keine Beunruhigung anzuerkennen. Und während wir uns in der Dunkelheit wieder in Richtung Strasse kämpfen, begleitet uns noch für lange Zeit der Geruch von verbranntem Holz und Harz, den der Wind unaufhörlich talabwärts bläst.
Die folgenden Tage waren geprägt von harter, stressiger Arbeit. Hart sind wir uns ja gewöhnt, doch eine Deadline im Monkey Park war für uns ein Novum. Am Dienstag im Verlauf des Vormittags erfuhren wir, dass für Freitag ein Event für eine 47-köpfige Gruppe aus New York - ausschliesslich Frauen - geplant ist. Den wohlhabenden und gegebenenfalls spendablen Damen wolle man auch was zeigen können und somit fiel es auf Jonah, Haime, Judith und mich, innert kürzester Zeit das Gewächshaus einigermassen fertig zu stellen. Da der Pferdekot schon aufgebraucht wurde, ging es zuerst mal darum, geeignete Erde zu finden. Am anderen Ende des Parks wurde man schliesslich fündig und es wurde entschieden, bei einem schattenspendenden Baum, der direkt neben dem Weg für Besucher liegt, Erde abzutragen. Unter den fragenden Blicken der vereinzelten Gäste lockerten wir mit dem Pickel die Erde auf und fuhren diese Schubkarre für Schubkarre die gut hundertfünfzig Meter zum Gewächshaus herüber. Alle halfen mit und in erstaunlich kurzer Zeit waren die drei kreisförmig angelegten, 80 Zentimeter breiten und insgesamt wohl gut hundert Meter langen Holzkästen bis zum Rand mit nährstoffreicher Erde gefüllt. Etwas problematisch wurde es, als man bemerkte, wie wenig Sträucher zum Pflanzen zur Verfügung standen. Die paar spärlichen Kräuter waren im Nu in der Erde, sahen jedoch ziemlich verloren aus angesichts des vielen freien Platz dazwischen. Nichtsdestotrotz war Vanessa sehr zufrieden und liess sich auch nicht davon entmutigen, dass am nächsten Morgen fast die Hälfte der Pflänzchen traurig ihre vertrockneten Blätter hängen liessen. Wir seien bereit für die Frauen, meint sie voller Elan, und lässt Judith und mich an einer der vielen zeitgleich durchgeführten Führungen mitlaufen. Die Tiere kannten wir natürlich alle bereits, waren jedoch genau so erstaunt wie die Frauen, als wir erfuhren, dass der Klammeraffe aus der Gefangenschaft einer kriminellen Gruppe gerettet wurde, die ihn dazu missbrauchten, Taschendiebstähle mit seinem sehr langen und beweglichen Schwanz durchzuführen. Im Anschluss half ich im unkoordinierten Chaos der Mittagsessensvergabe im nahe gelegenen Restaurant unter dem Geschrei der viel zu lauten Livemusik, bevor sich die Damen schon wieder verabschieden mussten und in mehreren Cars zu ihrem nächsten Programmpunkt weiter chauffiert wurden. Zusammen mit dem Team erholte ich mich von der Aufregung und dem Stress der vergangenen Tage, bevor ich mich wieder einem meiner Projekte in Eigenregie zuwandte.
Mir ist schummrig und ich sehe verschwommen. Denken und sprechen fällt mir schwer, alles fühlt sich langsamer an als gewöhnlich. Wie ein starkes Betäubungsmittel sediert mich das Gift der Henkerwespe seit nun schon einer guten Stunde, nur langsam merke ich, wie die Wirkung leicht nachlässt. Der Stich des eigentlich wunderschönen, gelb-rötlich geringten, gut daumenlangen Insekts in den linken Oberarm war schmerzhaft. Die Wespe muss zuvor auf mir gelandet sein und sah sich - versehentlich mit der Hand eingeklemmt - gezwungen sich zu verteidigen. Ein plötzlicher, alles durchdringender Schmerz liess mich kurz aufschreien. Verdutzt erkannte ich das Insekt als eines, das wir am Vormittag ausgiebig fotografiert hatten und ich bat Judith, Jonah zu fragen, ob dessen Stich gefährlich sei. Ich lag mich hin und merkte, wie mein Immunsystem zu arbeiten begann und der Schmerz etwas abebbte. Ein Schmerz, der zu den intensivsten durch Insektenstichen hervorgerufenen gehöre, wie wir im Nachhinein nachlasen. Es ging nicht lange, bis Judith mit gefrorenem Wasser in einer Flasche und der Gewissheit zurückkam, dass man, ausser im Falle einer allergischen Reaktion, nichts machen müsse, ausser dem natürlichen Verlauf auszuharren. Das Eis half gegen die immer grösser werdende, leicht gerötete Schwellung an der Einstichstelle, das Liegen gegen das Karussell im Kopf und nach wenigen Stunden war der ganze Spuk auch schon wieder vorbei.
Ähnlich schmerzhaft sind die Auseinandersetzungen und Streitereien mit Judith. Seit wir wieder in der Natur sind, ist die Grundstimmung zwar eine grösstenteils positive, fröhliche und entspannte. Doch auch hier braucht es teilweise nur eine Kleinigkeit, die mir nicht passt, um mich unverhältnismässig schnell und stark wütend zu machen. Es ist ein neues Verhalten, das sowohl meinem Umfeld, insbesondere Judith, als auch mir schadet und angepasst werden muss. Es ist eine relativ neue Erkenntnis, dass der Verzicht auf den regelmässigen Konsum von Suchtmitteln mich dazu zwingt, mich mit mir auseinanderzusetzen. Meine Gefühle zuzulassen, zu akzeptieren und zu verstehen probieren. Ich merke, wie extrem schlecht ich darin bin und rege mich darüber auf. Doch was lange vernachlässigt wurde, kann auch nicht einfach von einem Tag auf den anderen wieder eingeschalten werden. Ich meditiere viel in dieser Zeit. Liege in der Hängematte und höre einer geführten Mediation zu. Realisiere, wie entspannt und zufrieden ich danach bin. Verliere mich für Stunden im Laub rechen und fühle mich ausgeglichener. Liege an einem freien Tag am Ufer eines kleinen Flusses und fühle mich wohl. Es sind befreiende Momente, leider jedoch nur von kurzer Dauer. Bis dann nämlich, wo sich mein Kopf und meine Gedanken wieder dazugesellen. Sie halten mir vor, dass noch dies und jenes zu erledigen ist. Es schon spät sei und die Arbeit warte. Und wenn nicht die Arbeit, dann zumindest das eine oder andere Projekt. In der freien Zeit kann man ja schliesslich nicht nur faul herumliegen, sondern muss auch produktiv sein. Dann geht es schon wieder ans Kochen. Die Küche sauber aufzuräumen, nicht dass die anderen morgen ihre Sachen nicht finden. Nach und nach beginne ich zu realisieren, was für einen unglaublichen Stress ich mir damit selber aufbürde. Nicht weil ich es will, mache ich etwas, sondern weil ich denke, dass ich muss. Ohne Freude, nur damit es erledigt ist und im Anschluss direkt zur nächsten Aktivität gehetzt werden kann. Das befriedigende Gefühl, wenn etwas abgeschlossen ist, steht hierbei in keinem Verhältnis zum Druck, unter den ich mich dabei setze. Das zu tun, was man will, wann man will und wie lang man will, pura vida halt, davon sollte ich mir eine grosse Scheibe abschneiden. Denn ständig unter Strom zu sein, sich selber anzupeitschen, führt vor allem zu Unzufriedenheit, Unausgeglichenheit und - wenn dann jemand im falschen Moment das falsche sagt - zu Streit. Gemeinsam mit Judith erstelle ich eine Liste, was für mich die grössten Stressfaktoren sind und wie man sie entschärfen kann. Es sind grösstenteils intrinsische Punkte, was zum einen den Nachteil hat, dass ich ihnen nicht einfach aus dem Weg gehen kann, aber auch den Vorteil, dass sie ständig da sind, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich lese viel über Stress im Allgemeinen sowie Methoden zu dessen Bewältigung. Die Schädlichkeit, wenn dieser zu einem Dauerzustand geworden ist. Die Wichtigkeit, sich dem Problem überhaupt bewusst zu werden und mit jemandem darüber sprechen zu können. Die Möglichkeiten, sich neue Denkmuster und Verhaltensweisen anzueignen. Übermässigen Perfektionismus einzugestehen, zu hohe Ansprüche zu senken. Positive Alltäglichkeiten bewusst als solche wahrzunehmen. Denn nur wer positiv denkt, kann auch Stress bewältigen. Sport zu treiben, sich gesund zu ernähren und - nicht zuletzt - Techniken zur Entspannung zu lernen. Atemübungen zu praktizieren, zu meditieren. Die Möglichkeiten sind praktisch endlos und für jede Person unterschiedlich relevant. Was zählt, ist der Wille, sich aktiv damit auseinandersetzen zu wollen sowie eine positive, optimistische und gelassene Grundeinstellung. Nur so kann eine Tätigkeit auch entspannen und Freude entstehen. In meinem Fall beispielsweise der Bau eines Kletterparcours für die Hühner, die meine langsam Form annehmende Konstruktion mit jedem Tag etwas neugieriger betrachten.
Der ursprüngliche Plan war, einen schönen und zweckmässigen Pool zu gestalten. Mit Fischen, Seerosen, schwimmenden Erdbeeren und einem grossen Springbrunnen in der Mitte. Ringsherum ein paar Sitzgelegenheiten, um gemütlich die sich erfrischenden Vögel beobachten zu können. Seit einem starken Erdbeben vor gut neun Jahren ist der im Durchmesser etwa vier Meter grosse Pool nämlich beschädigt und anstatt ihn zu flicken, entschied man sich dazu, darin riesige Palmwedel kompostieren zu lassen. Zwei Tage lang zogen wir diese aus dem knapp zwei Meter tiefen Becken und trugen sie an den Flussrand, zusammen mit Ästen, Steinen und mehreren Ameisenkolonien. Als wir dann endlich bereit waren, die Farbe abzutragen und die Löcher zu flicken, machte uns jedoch der finanzielle Engpass von Michael einen Strich durch die Rechnung und das Projekt versandete. Nach unserer Rückkehr in den Monkey Park suchten wir uns also ein neues Projekt. Etwas mit Holz, denn davon lag unterdessen mehr als genug herum. Hüfthoch stapelten sich am Flussufer dicke Äste, mehr oder weniger verrottete Bretter und gefällte Bäume. Der Plan war, damit das Gehege der Hennen in die Höhe zu erweitern und einen Kletterparcours zu bauen. Möglichst im Schatten natürlich, weshalb zwei mittelgrosse Bäume sich ideal als Gerüst dafür anboten. Dazwischen und etwas nach vorne verschoben, gruben wir ein gut anderthalb Meter tiefes Loch, ständig darauf bedacht, dass kein neugieriges Huhn hineinfällt. Darin versenkten wir einen knapp zehn Meter hohen Stamm, der uns als dritten Pfeiler dienen soll. Wir klemmten lange dicke Äste in die Astgabelungen der drei Stämme, sägten das überschüssige Holz ab und fertig war das Grundgerüst. Darauf legten wir einige weitere Äste sowie Bretter, bohrten Löcher vor und befestigten alles mit langen Nägeln. Zum Test packte ich ein paar Hühner, die wir der Einfachheit halber allesamt Hannelore oder Hildegard getauft hatten, und platzierte diese auf den Plattformen. Unbeschwert pickten sie das dort zuvor verteilte Fressen auf, waren dann aber auch wieder sichtlich froh, hinunter flattern zu können und festen Boden unter den Krallen zu haben. Die meisten jedenfalls. Während einige schon am untersten Punkt des Parcours die Krise schoben, balancierten andere bis hoch in die Bäume und schienen sich dort, auf gut fünf Metern Höhe, richtig wohl zu fühlen. Ganz im Gegenteil zum Hahn der 21 Hennen übrigens, der sich als riesigen Angsthasen entpuppte und nach einem kurzen Ausflug auf den Parcours das Kapitel für sich rasch wieder abschloss. Wir wussten, dass sich die Tiere erst an die Höhe gewöhnen mussten und bauten weiter. Zwei dicke Hölzer lehnte ich parallel an den untersten Teil des Parcours an und verband diese mit mehreren Sprossen, in der Hoffnung, dass die Hühner über diese Leiter den Parcours selbstständig betreten. Aus einem Bambusrohr schlug ich zwischen zwei Membranen den oberen Teil heraus, sodass es als Futtertrog benützt werden kann, bohrte auf den Seiten zwei Löcher hinein und befestigte diese mit Draht an einem darüber liegenden Stamm. Auf einen Tipp von Haime hin suchte ich mir mehrere meterlange Lianen zusammen, überzog damit lose den gesamten Parcours und befestigte die Knotenpunkte mit Draht. Was zum einen wie eine schöne Verzierung im Dschungelstil daherkommt, dient vor allem den Hennen, auf dem teils sehr glatten Holz besser Halt zu finden. Als Schaukel befestigte ich mit Draht einen dicken, stabilen Ast so, dass dieser gut zwanzig Zentimeter über dem Boden frei schwingen konnte. Unter den neugierigen Blicken der Hennen, unserer Mitarbeiter und den paar wenigen Gästen entstand somit im Verlauf mehrerer Nachmittage ein wahres Kletterparadies für die Tiere. Wir stellten fest, dass sich diese vor allem in den frühen Morgenstunden gerne darauf aufhielten und verteilten in der übrigen Zeit Futter auf den Plattformen, um sie hinauf zu locken. Alles in allem war es ein gelungenes Projekt, an dem sich sowohl Tier als auch Mensch erfreuen konnten. Zugleich war es auch eine Art Abschiedsgeschenk an den Monkey Park. Zuvor hatten wir nämlich vom Datum des Rückfluges zurückgerechnet und gemerkt, dass wir bald weiter reisen mussten, um ohne Stress noch ein paar schöne Orte entdecken zu können, die wir uns vorgenommen hatten. Und so ging unsere Zeit in Guanacaste langsam aber sicher dem Ende entgegen. Sehr viel Natur, campieren in der Abgeschiedenheit und Freiheit der Wildnis, in ständiger Begleitung von Ameisen, Skorpionen, Geckos, Fröschen, Wespen und Moskitos. Harte, aber auch befriedigende Arbeit unter der erbarmungslosen Sonne Zentralamerikas. Neue Fertigkeiten gelernt und andere vertieft. Freundschaften und Bekanntschaften geschlossen. pura vida zu verstehen begonnen. Nachts den glitzernden Sternenhimmel betrachtet und mit den Geräuschen des Dschungels eingeschlafen. Auf dem Boden der Tatsachen aufgewacht, als ich mit dem Rauchen und Trinken aufhörte. Herausbrodelnde Gefühle einzuordnen probiert. Teils mehr, teils weniger erfolgreich. Teils mehr, teils weniger anstrengend. Mit Michael einen Menschen gefunden, der das Konzept von Freiwilligenarbeit angemessener interpretiert. Viel Lob erhalten, viele Freiheiten genossen und faire Arbeitsbedingungen erlebt. Abwechslungsreiche Ausflüge in die umgebende hügelige Landschaft unternommen und uns in erfrischenden Flüssen abgekühlt. Worauf wir uns auch sicher bei unserem nächsten Ziel freuen können: dem Rio Celeste. Herzlichst empfohlen von einem sehr gesprächigen, französischen Bäcker aus Tamarindo.
Wir deponieren unser Gepäck und laufen über den menschenleeren Campingplatz. Vorbei an zwei künstlich angelegten Teichen, in die vom nahe gelegenen Rio Guayabo frisches Wasser umgeleitet wird und an deren Böschungen unterschiedlichste Blumen gepflanzt wurden. Vorbei an einer grossen Lagune, deren Zufluss fast komplett mit Seerosen überdeckt ist und die dort lebenden Gänse gerade von Antonio gefüttert werden. Über aufwendig in die Erde gepickelte Stufen steigen wir zwischen frisch gepflanzten Bananenstauden den steilen Hang hinauf, der den Campingplatz von der Wildnis trennt. Wir lassen den Blick über den Dschungel des 18'000 km² grossen Nationalparks schweifen und sehen die nur fünf Kilometer Luftlinie entfernte Spitze des ebenfalls komplett bewaldeten namensgebenden Vulkans Tenorio, der mit 1916 Meter über Meer höchste Punkt des gesamten Gebiets. Entgegen einer Legende eines Ausbruchs im Jahr 1816 wird heute aufgrund des seit den 1850er-Jahren beobachteten dichten Waldwuchses nicht angenommen, dass er in jüngerer Vergangenheit ausbrach. Im Zuge eines Erdbebens im Jahre 1998 jedoch sind Fumarole und heisse Quellen entstanden, hauptsächlich im Verlauf des Rio Celeste gut zwei Kilometer westlich von hier. Der Pfad führt uns in östlicher Richtung dem Waldrand an der Krete des Hügels entlang. Wir geniessen die Aussicht in Richtung Norden auf die in leichtem Nebel verschwindenden tiefgrünen Hügel und Wiesen, durch die sich die fast verkehrsfreie calle la paz schlängelt. Südseitig beginnt der dichte Regenwald und durch die Blätter sehen wir schon den Rio Samén, der gut hundert Meter unter uns durch ein kleines Tal durch den Nationalpark fliesst. Wir folgen dem Weg und entdecken bald einen Zugang zum Fluss. Wir klettern den steilen Pfad hinunter und waten ein paar Dutzend Meter flussaufwärts, bis wir eine im Durchmesser gut zehn Meter grosse Lagune erreichen, die von zwei kleinen Kaskaden gespeist wird. Wir erfrischen uns im kalten, klaren Wasser, durch das wir ein paar verängstigte blaue Flusskrebse sehen, die schnell unter grossen Steinen verschwinden. Wir bewundern den dichten Regenwald, der sich links und rechts des Flusses an der steilen Böschung über Jahrhunderte gebildet hat und eine schier unfassbare Vielfalt von Blättern, Blüten, Sträucher und Bäume aufweist. Wir legen uns auf die flachen, teils mit weichem Moos überwachsenen Steine, werden jedoch bald von den vielen Moskitos und der untergehenden Sonne zum Aufbruch gezwungen. Nach einer knappen Viertelstunde stehen wir schon wieder auf dem Campingplatz und blicken zurück zum Hang. Es ist mittlerweile dunkel geworden und wir bemerken das vereinzelte Blinken kleiner grüner Glühwürmer. Wir setzen uns ins weiche Gras und sehen, wie sich nun auch grössere, orange-rötliche Glühwürmer dazu gesellen. Nach wenigen Minuten beginnt der gesamte Hang grün und rot zu leuchten in einer Intensität, die für so kleine Tiere fast unvorstellbar scheint. Unter dem grollenden Ruf der vielen die Lagune bewohnenden Ochsenfrösche schauen wir dem Spektakel zu, bis das Lichtgewitter nach wenigen Minuten abebbt. Wir sind dankbar, dass wir an einem Ort gelandet sind, wo die Natur das Sagen hat, der Mensch sich hinten anzustellen hat und das Ökosystem noch im Gleichgewicht ist.
Der Rio Celeste macht seinem Namen alle Ehre. Teils stahlblau, teils milchig hellblau, beginnt er am Fuss des Vulkans und fliesst talabwärts in Richtung Nordosten. Genauso intensiv gefärbt wie auf den vielen Fotos im Internet, von denen wir sicher waren, dass sie bearbeitet sein müssen. Der Legende nach erhielt der Fluss seine Farbe von Gott, als er den Himmel malte und den Pinsel im Fluss auswusch. Die wissenschaftliche Erklärung dagegen ist etwas komplizierter. Tief im Nationalpark, beim als teñidero bekannten Punkt, fliessen die Flüsse Rio Buenavista und Quebrada Agria zusammen. Die daraus resultierende Veränderung des ph-Werts führt dazu, dass ein im Rio Buenavista vorhandenes Mineral vergrössert wird. Von 184 auf 570 Nanometer wächst das Aluminiumsilikon, bestehend aus Aluminium, Silikon und Sauerstoff. Während ein kleiner Teil davon auf den Boden sinkt und dort ein weisses Sediment bildet, wird der Grossteil vom Fluss mitgerissen, der ab diesem Punkt als Rio Celeste bezeichnet wird. Ähnlich wie Wassertropfen bei der Entstehung eines Regenbogens agieren auch die im Wasser schwebenden vergrösserten Mineralienpartikel als Prismen und reflektieren das Sonnenlicht. Aufgrund der Grösse von rund einem halben Mikrometer werden dabei hauptsächlich bläuliche Töne gespiegelt und erklären so die von uns als Blau wahrgenommene Farbe des Flusses. Dementsprechend intensiv leuchtet der Fluss an diesem sonnigen Tag, als wir ihn von der Brücke stehend das erste Mal erblicken. Da im gesamten Nationalpark das Baden strengstens verboten ist, begnügen wir uns für heute mit einem auf Google Maps als free pool eingezeichneten Abschnitt des Flusses, unromantisch direkt bei der Hauptstrasse gelegen, jedoch deutlich ausserhalb der Grenzen des Schutzgebietes. Wir klettern die Böschung hinunter und folgen einem kleinen Pfad, der uns flussaufwärts zu einem paar Dutzend Meter entfernt liegenden Becken führt. Wir deponieren unsere Drybags und waten vorsichtig in das eiskalte Wasser, um von der starken Strömung nicht mitgerissen zu werden. An dieser Stelle gute drei Meter tief, tauche ich entlang des steinigen Bodens, bis ich nur noch die von den beiden mächtigen Kaskaden mitgerissenen weissen Luftblasen sehe. Ich tauche auf, lasse mich gemütlich entlang des Randes des Beckens treiben und betrachte die uralten, teils morschen und mit dichtem Moos bewachsenen Baumstämme, von denen lange dicke Lianen herunterhängen. Wir verlassen das Wasser, als eine Gruppe Touristen kommt, die nach dem Besuch des Nationalparks eine kurze Erfrischung suchen. Ich springe von Stein zu Stein und klettere zum Bereich oberhalb des Pools, wo ich von der Unberührtheit des wilden Flusses überwältigt bin. Am Fuss des mit dichtem Dschungel überwachsenen Tals strömt mir der Rio Celeste entgegen, vorbei an grossen, über die Jahrhunderte kugelrund geschliffene Felsen. Deutlich sieht man an den flachen Stellen am Ufer die schneeweissen Sedimente des Minerals, das sich wie ein Teppich aus Eiskristallen über die von Algen überwachsenen Steine zieht. Als ich zurückkomme, entledigt sich schon eine zweite Gruppe Besucher ihrer Kleidung. Nach einem kurzen Fotoshooting etwas flussabwärts machen auch wir uns auf den Heimweg und laufen der ab diesem Punkt fast verkehrsfreien Hauptstrasse entlang, gesäumt von dutzenden süsslich riechenden Blumen in allen Farben.
In Ehrfurcht betrachten wir den Wasserfall, über den der dunkelblaue Rio Celeste gute dreissig Meter in die Tiefe stürzt. Das grosse Becken schäumt weiss ob der riesigen Menge Wasser, die mit voller Wucht aufprallt und uns, dreissig Meter entfernt auf der Aussichtsplattform stehend, ins Gesicht weht. Links vom Wasserfall ragt eine mächtige Felswand steil in die Höhe, deren dicke Moosschicht durch die vielen kleinen Wassertröpfchen hell glitzert. Ringsherum umgibt uns, wie überall in diesem Gebiet, dichter Primärwald, der alles dahinter liegende verborgen lässt. Eine halbe Stunde beobachten wir das Naturschauspiel sowie die zahlreichen Gäste, die aus bestmöglicher Position schnell ein paar Selfies schiessen, um kurz darauf wieder die 250 Stufen den Hang hinauf zu hetzen. Auch wir machen uns nach einem gemütlichen Picknick wieder auf, um auf sehr gut unterhaltenen Wegen, die die 12 US$ Eintritt fast rechtfertigen, weiter in den Nationalpark vorzudringen. Vom mirador aus geniessen wir die fantastische Aussicht auf die komplett bewaldete Ostflanke der Vulkankette, Heimat von Pumas, Affen, Tapiren und vielen weiteren scheuen Geschöpfen des Dschungels. Deutlich erkennen wir die Gipfel der Vulkane Tenorio 1, 2 und Montezuma, die in den für einmal fast wolkenlosen stahlblauen Himmel ragen. Wir erreichen den pool azul, in dem die Färbung des Flusses besonders zur Geltung kommt und gemütlich über dicht wucherndes Wassergras fliesst, deren Spitzen aufgrund der Sedimente weiss leuchten und wie eine Wiese im starken Wind hin und her weht. Ein paar Schritte weiter riechen wir schon den unverkennbaren Geruch von Schwefel, der bei den borbollones aus dem Flussboden tritt. Wie ein Whirlpool tritt ein zu 97 % aus CO₂ bestehendes Gasgemisch aus dieser typisch vulkanischen, 60 °C heissen hydrothermalen Quelle. Über ein Netz aus teils neu gebauten, teils komplett verrosteten Brücken erreichen wir schliesslich den zuvor beschriebenen teñidero, wo die Färbung des Rio Celeste ihren Ursprung und der begehbare Teil des Nationalparks ihr Ende hat. Auf dem gleichen Weg, den wir gekommen sind, machen wir uns auf den gut einstündigen Rückweg und verlassen kurz vor Schliessung begeistert und beeindruckt den Nationalpark Tenorio.
Ich folge dem Waldrand und überquere eine Kuhweide, vorbei an zwei riesigen Kapok-Bäumen. Dichtes Efeu, Lianen und Moose bedecken die locker dreissig Meter hohen dicken Stämme und wachsen hinauf bis in die Baumkronen. Der Trampelpfad führt mich ein kurzes Stück durch den Dschungel steil hinunter in Richtung Fluss. Das Rauschen wird immer wie lauter und bald sehe ich durch das dichte Blätterdach das Glitzern des Wasserfalls. Der Weg endet bei einem Halbkreis aus kleineren und grösseren wackeligen Steinen, die über den Fluss führen. Rechts davon hat sich ein seichter Pool angestaut, der trotz der vielen Blätter, Schlamm und Kies zum Baden einlädt. Dahinter rauscht über die schwarze, gut fünfzehn Meter breite und knapp zehn Meter hohe glatte Felswand ein tosender Wasserfall. Ich deponiere mein Gepäck und wate ins kalte Wasser. Ich tauche unter und geniesse die plötzliche Ruhe nach dem ohrenbetäubenden Rauschen des wilden Flusses. Das erfrischende Wasser, das meinen Körper umfliesst und das Jucken der vielen Moskitostiche betäubt. Ich tauche wieder auf und lasse mich auf dem Rücken treiben, bis ich am anderen Ufer eine kleine Lücke im ansonsten dicht bewachsenen Dschungel bemerke. Neugierig packe ich meine Sachen und laufe zwischen den beiden Bäumen hindurch, die wie ein Tor in eine andere Welt zu führen scheinen. Ein Pfad führt mich durch den dicht wuchernden, feuchten und heissen Dschungel zu einem kleinen Fluss. Ich kämpfe mich durch das Unterholz, bis der Weg zehn Meter flussaufwärts wieder erkennbar ist und eine steile Böschung hinaufführt. Gut zwanzig Minuten folge ich dem Weg, der mich immer tiefer und tiefer in den Nationalpark führt. Ich weiss, dass dieser Pfad nicht für mich bestimmt ist. Aufmerksam lausche ich den Geräuschen des Waldes und halte verstohlen Ausschau nach Schlangen, Affen oder den Maleku, den Ureinwohner dieses Gebietes. Das einzige Lebewesen jedoch, das ich neben den tausenden von Moskitos sonst noch erblicke, sind rot-blaue Pfeilgiftfrösche, die mir schnell aus dem Weg hüpfen, sobald ich mich nähere. Bis ich um einen dicken Baum laufe und mir vor Schreck fast das Herz in die Hose fällt. Nur gut zehn Meter von mir entfernt steht ein etwa hüfthoher Vogel und schaut mich an. Es ist ein majestätisches Tier mit glänzend schwarzem Federkleid, weissem Bauch, langen dünnen Beinen, einem weiss-gelben Schnabel mit kleinem Höcker sowie eine Reihe von Federn am Kopf, die abstehen wie die Stacheln eines Iguanas. Ich bewege mich langsam auf den Vogel zu, der jedoch urplötzlich und in einer für seine Grösse unfassbaren Geschwindigkeit ins Gebüsch und aus meinen Augen verschwindet. Wie ich später von einem sehr erstaunten Antonio erfahren werde, handelt es sich hierbei um ein Hokkohuhn. Gut hörbar an seinem unverwechselbaren Ruf, ist das Hokkohuhn ein seltener Vogel, der in Abgeschiedenheit im tiefen Dschungel lebt und dementsprechend selten von Menschen zu Gesicht bekommen werden kann.
Kurz darauf führt der Pfad eine Böschung hinunter und ich gelange wieder zum Rio Samén, der an dieser Stelle gemächlich über grosse Felsen fliesst. Ich folge dem Verlauf um eine Kurve und stehe plötzlich am Kopf einer gut fünfzig Meter hohen Felsklippe. Ich lasse meinen Blick über den scheinbar endlosen Urwald schweifen, während das Wasser in einem tosenden Lärm in die Tiefe stürzt. Für eine Weile geniesse ich die Aussicht und die Abgeschiedenheit, bevor ich mich wieder auf den Rückweg mache. Die Moskitos scheinen nun noch aggressiver zu sein, ich laufe dementsprechend zügig und freue mich auf ein Bad im erfrischenden Pool des Wasserfalls. Kurz davor entdecke ich jedoch einen weiteren Pfad, der steil an der Seite des Wasserfalls hinauf verläuft. Nach kurzem Klettern erreiche ich das Plateau oberhalb des Wasserfalls, wo der Fluss in einer Lichtung über eine gut zehn Meter breite hellgraue Felsplatte verläuft. Über die Jahrhunderte hat das Wasser kleine Rinnsale in den aalglatten Fels gefressen und plätschert ruhig kreuz und quer über kleine und mittelgrosse Kaskaden. Wo das Wasser auf den Fels spritzt, hat sich ein saftig grüner Moosteppich gebildet, woraus kleine Sträucher mit violetten Blüten gedeihen. Vorsichtig hüpfe ich von einer kargen Stelle zur nächsten, bis ich direkt oberhalb des Wasserfalls stehe. Die Aussicht ist gigantisch. Wie in einer Arena präsentiert sich mir in einem Halbkreis eine Vielzahl verschiedenster Bäume, Sträucher, Flechten, Lianen und Moose in allen erdenklichen Formen, Grössen und Grüntönen. Aufgrund der Höhe der Felswand bin ich auf Augenhöhe vieler Baumkronen, die von unterhalb des Wasserfalls in die Höhe wachsen. Ich springe flussaufwärts von Stein zu Stein und bemerke, wie das Rauschen des Wasserfalls dem Plätschern der einzelnen Bäche, dem Zirpen der Grillen und dem Vogelgezwitscher weicht. An dieser Stelle führt der Fluss schon wieder durch den Dschungel, dementsprechend dunkel ist es und auch die Moskitos beginnen wieder Überhand zu nehmen. Kurz bevor ich umkehre, gelange ich zu einer kleinen Lagune, die malerisch zwischen Felsen, Büschen und einer kleinen Kaskade eingebettet liegt. Ich zögere nicht lange und tauche ein in das wohltuend kühlende Wasser. Ich beobachte das Blätterdach, das sich im Wind leicht bewegt. Betrachte das abwechslungsreiche, saftig grüne Gebüsch, das entlang der steilen Böschung des Flusses gedeiht. Ich schaue zwei Vögeln zu, die gemütlich flussabwärts gleiten und folge ihnen schliesslich auch wieder auf die Lichtung am Kopf des Wasserfalls. Mehrere Stunden sitze ich auf den Steinen oder laufe umher und beginne, eine immer tiefer werdende Verbindung zu diesem Ort zu spüren. Ich nehme die ungezähmte Wildnis in all ihrer Schönheit wahr und fühle mich als nebensächlichen Gast im Vergleich zu den uralten mächtigen Lebewesen, die diesen Wald ausmachen. Dennoch fühle ich mich wohl, sicher und willkommen auf der kleinen Lichtung, die sich wie eine Insel aus dem endlosen Meer der Bäume erhebt. Ich atme die kühle, frische Luft tief ein und aus und probiere Sorgen, Stress und negative Gedanken im Sog des Wassers wegtreiben zu lassen. Mit jedem Atemzug fühle ich mich leichter, freier und entspannter. Ich fühle mich zuhause. Als die Sonne langsam hinter dem Horizont unterzugehen beginnt, mache ich mich auf den Rückweg und laufe wieder an den beiden Kapok-Bäumen vorbei. Es kommt mir vor, als wäre ich in Anwesenheit zweier uralter stiller Riesen, die seit Menschengedenken den Eingang zu diesem magischen Ort bewachen.
Jeden Tag laufe ich die kurze Strecke von unserer Hütte zum Plateau. Mir ist bewusst, dass ich nicht mehr lange hier sein werde und möchte deshalb so häufig wie möglich an diesem Ort verweilen. In dieser Umgebung mit dem die weitläufigen Hügel bis hoch zu den Gipfeln verschlingenden Dschungel. Das laute Rauschen des Wasserfalls in den Ohren, das ohrenbetäubende Zirpen der Grillen in den späten Abendstunden. Eine Aussicht auf Bäume und Palmen in allen möglichen Grüntonen, in einer wie aus einem Gemälde entsprungenen unfassbaren Schönheit. Die saubere Luft, die aus dem häufig leicht bewölkten Himmel herunter weht. Die unendliche Freiheit, die dieser Ort ausstrahlt und sich auf mich überträgt. Wozu ich mich im Monkey Park konzentrieren musste, geschieht hier wie von selbst. Ich schalte meinen Kopf aus und lasse die Gedanken einfach fliessen. Akzeptiere sie, gebe ihnen Platz, doch fokussiere mich nicht auf sie. Ich lasse sie kommen und gehen, so wie sie sind. Stress scheint an diesem Ort nur noch eine ferne Erinnerung zu sein, ich kann mich entspannen wie schon lange nicht mehr. Mir ist bewusst, dass ich vor meinen Emotionen und Gefühlen nicht davonrennen kann. Dennoch merke ich, wie sehr das Umfeld und die Umgebung mich in diesem Reflexionsprozess unterstützen kann oder eben nicht. Ich male mir aus, wie es wäre, für eine längere Zeit hier zu bleiben. Überlege mir, was man mit diesem riesigen Grundstück machen könnte. Wie man es schützen und bewahren kann. Zahllose Ideen schwirren mir durch den Kopf und ich beginne, mit Antonio darüber zu sprechen. Schon lange habe ich nämlich das kleine se vende Schild am Zaun bemerkt, auf dem mit dem Verkauf des gesamten Grundstückes inklusive Wasserfall geworben wird. Rasch stellt sich jedoch heraus, dass vor allem der Bereich an der Strasse zum Verkauf stehe, beispielsweise für ein Restaurant, und der Campingplatz weiter bestehen soll. Antonio weiht mich sogar in seine Pläne ein, am Hügel direkt am Waldrand weitere Hütten zu bauen, in nächster Nähe des Wasserfalls und mit einer wahrhaftig fantastischen Aussicht. Dahinter sei das Bauen verboten und der Nationalpark beginne - laut openstreetmap verlaufen die Grenzen jedoch erst ein paar hundert Meter weiter im Landesinneren. Ich weiss, dass die Zeit nicht mehr ausreicht, um sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, doch bin froh, mit Antonio zumindest darüber gesprochen zu haben.
Gedankenversunken lege ich den im Urner Gebirge gefundenen Bergkristall, den ich seit nun gut fünf Monaten durch Zentralamerika trage, auf einen flachen Stein in den Fluss. Mit einem guten Dutzend 50 Zentimeter langen Drahtstücke, die ich mir noch im Monkey Park zurechtgeschnitten hatte, mache ich mich an das Flechten eines neuen Baumes. Deutlich schwieriger und schmerzhafter, ganz ohne Zange und Drahtschneider, doch ich lasse mir Zeit. Nachdem ich mit Stamm und Blätter einigermassen zufrieden bin, suche ich mir an der Böschung des Flusses einen passenden Ort zur Befestigung. Rasch fällt mein Blick auf einen kleineren, komplett mit Moos überwachsenen Baum, dessen Äste bis weit über den Fluss hinausragen. Ich befestige die Drahtskulptur vorsichtig, um die Rinde nicht zu verletzen, forme die Wurzeln und mache mich an den letzten Feinschliff. Ich bin zufrieden und froh, dem Ort, der mir so viel gab, eine Kleinigkeit zurückgeben zu können. Ich freue mich, in unbekannter Zukunft zurückzukehren und zu sehen, wie die Natur den Baum überwuchert haben wird. Die Zeit des Abschieds naht unaufhaltsam. Während ich problemlos bis zum Rückflug an diesem Ort verweilen könnte, möchte Judith, wie schon lange geplant, die letzten Tage auf den San Blas Inseln in Panama verbringen. Ich lasse den Blick ein letztes Mal über meine Umgebung schweifen. Bemerke zwei verschlafene Schleiereulen, die mich von einem weit entfernten Ast aus beobachten. Es ist zweifelsfrei einer der schönsten Orte, an dem ich je war. Ich nehme den Kristall wieder aus dem eiskalten Wasser. Er scheint klarer als zuvor.
Vor zwei Tagen und einer gefühlten Ewigkeit hatten wir uns von Antonio und seiner Frau verabschiedet. Wir seien jederzeit wieder herzlich willkommen und für einmal fühlte sich hasta la próxima vez mehr wie ein Versprechen als eine Floskel an. Wir deponierten unser Gepäck am Strassenrand und mussten nicht lange warten, bis uns eine Amerikanerin in ihrem grossen Mietauto bis zum Eingang des Nationalparks mitnahm. Von dort aus konnten wir bei einem kanadischen Content Creator bis nach Bijagua mitfahren, von wo aus der öffentliche Bus direkt nach San José fährt. Nach einer entspannten mehrstündigen Fahrt erreichten wir so am frühen Nachmittag die Hauptstadt Costa Ricas. Wir hatten im Vorfeld den Nachtbus nach Panama Stadt gebucht, der jedoch erst kurz vor Mitternacht abfahren solle. Aufs Neue missfiel uns die Hektik, der Lärm und der Gestank von San José, weshalb wir unsere Zeit hauptsächlich in Restaurants totschlugen. Bei einem abendlichen Spaziergang, um Verpflegung und Wasser für die lange Busfahrt einzukaufen, begegneten wir allerlei zwielichtigen Gestalten. Obdachlose, die uns auf unverständlichem Spanisch ansprachen oder eine Gruppe voll tätowierter Jugendlicher, die verbotenerweise in unmittelbarer Nähe des Polizeipostens kifften und Alkohol tranken. Als uns ein Mann mit riesiger Machete in der Hand entgegenkam, wechselten wir die Strassenseite und beschleunigten unseren Schritt, als wir merkten, dass er umkehrte und uns langsam hinterherlief. Wir waren froh, endlich im gut bewachten Busterminal angekommen zu sein und nach viel lesen und schreiben verliessen wir mit einer guten Stunde Verspätung um etwa ein Uhr in der Nacht San José. Es dauerte nicht lange, bis ich einschlief und erst am frühen Morgen wieder erwachte. Erstaunlich gut erholt frühstückten wir an einer Raststätte, hinter der ein mächtiger, uralter Baum dutzende Meter in den wolkenverhangenen Himmel emporragte. Nach wenigen Stunden erreichten wir die Grenze - dieselbe, die wir vor knapp drei Monaten schon überquert hatten. Wenn auch mit etwas längeren Wartezeiten ob der grossen Gruppe, in der wir reisten, waren wir bald wieder auf panamaischem Boden. Nach einer ereignislosen Weiterreise erreichten wir am Abend mit der gleichen Stunde Verspätung, mit der wir auch gestartet waren, die Albrook Mall in Panama Stadt. Mitsamt Gepäck deckten wir uns für unsere Zeit auf den San Blas Inseln mit dreissig Litern Wasser, Früchten, Snacks und einer Flasche Rum ein und gönnten uns ein Taxi zu unserem Airbnb in unmittelbarer Nähe. Im wohl edelsten Quartier der gesamten Stadt fanden wir eine Gastgeberin britischer Abstammung, die uns ein erstaunlich günstiges, heimeliges Zimmer in ihrem wunderschön eingerichteten Haus mitsamt Pool und Garten zur Verfügung gestellt hat. Gegen neun Uhr abends wurden wir von ihr sowie einer Untermieterin in unserem Alter herzlichst empfangen und merkten bald, wie erschöpft wir eigentlich waren. Obwohl die Reise an sich sehr gut verlief und wir auch einigermassen schlafen konnten im Bus, zehren die grossen Distanzen und das ungesunde Essen an den Nerven. Nachdem wir eine gute Stunde unser Gepäck neu packten für den viertägigen Ausflug auf die Inseln, fielen wir nach einer wohltuenden Dusche dementsprechend dankbar in das weiche Bett und schliefen zufrieden ein.
Kurz vor fünf Uhr klingelte jedoch schon wieder der Wecker und auf leisen Sohlen schlichen wir aus dem Haus. Wie befürchtet war auf den Taxifahrer kein Verlass, der uns zum abgemachten Abholort fahren sollte. Nach einigen Telefonaten mit dem Veranstalter wurden wir dann direkt beim Airbnb abgeholt und mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages begann unsere Autofahrt in Richtung Osten. Sobald wir von der Panamericana in Richtung Norden abbogen, wich die Autobahn einer holprigen, sehr kurvigen Bergstrasse mit mehr Schlaglöchern als Asphalt. Wir erreichten den militärisch bewachten Grenzposten mitsamt Passkontrolle der autonomen Region der Guna Yala und kurz darauf das Flussufer. Erstaunlich gut organisiert wurden dort die Touristen nach Zielinsel sortiert und nach einer knappen Viertelstunde tuckerte auch unser Boot an den Steg. Halb zerstochen von unglaublich hartnäckigen Sandfliegen liessen wir uns im Schritttempo den Fluss entlang in Richtung Meer treiben. Das seichte Delta zwang den Schiffsführer und dessen Navigator, die vielen angeschwemmten Baumstämme und heimtückischen Sandbänke vorsichtig zu umfahren. Im offenen Meer angekommen beschleunigte das kleine Boot auf Maximalgeschwindigkeit und nahm Kurs auf unsere Insel. Vorbei an den beiden Hauptinseln, die die indigene Bevölkerung komplett mit Häusern und Hütten zugebaut hatten, sodass die Inseln als solche gar nicht mehr erkennbar waren. Vorbei an den grösseren touristischen Inseln, wo hunderte von Menschen den weissen Sandstrand auf- und abliefen. Vorbei an klitzekleinen unbewohnten Inseln, die lediglich aus ein paar Palmen bestehen. Nach einer knappen Stunde erreichten wir Yanisailadup und kletterten auf den kleinen Steg, der weit in das seichte, kristallklare Wasser hinausragte und genossen die uns plötzlich umgebende Ruhe, als der Kapitän den Motor abstellte.
Voller Vorfreude streifen wir unsere Rashguards über den Kopf und waten über feinen weissen Sand tiefer in das spiegelglatte Meer. Wir montieren Flossen, Maske und Schnorchel und machen uns an das Entdecken der auf der Webseite des Reiseveranstalters hoch gepriesenen Unterwasserwelt. In unmittelbarer Nähe des Stegs entdecken wir auf dem sandigen Boden bereits eine Mangrovenqualle, neben der mich ein klitzekleiner Krebs mit nach vorne gestreckten Zangen aufmerksam beobachtet. Ohne Hast folgen wir dem sandigen Kanal, der uns in Richtung Nordosten zum Aussenriff führt. Ohne Zweifel bietet das angrenzende Seegras Schutz für zahllose Tiere. Ich hoffe, ein Seepferd zu entdecken, doch stattdessen schaut mich nach wenigen Minuten ein schwarzweisser Pyramidenkofferfisch mit übertrieben spitzen Lippen aus grossen Augen an. Uninteressiert streckt er mir nach wenigen Sekunden seine Schwanzflosse zu und verschwindet wieder zwischen den Grashalmen. Ein paar Dutzend Meter weiter sehen wir rote, stachelige Fühler, die unter einem Haufen kleiner Felsen hervorragen. Ich stecke meinen Kopf fast bis in die kleine Höhle und bewundere die braune, mit weissen Punkten übersäte, massive Karibik-Languste. Der Kanal wird bald breiter und im Sand entdecken wir knapp zehn karibische Stechrochen. Während einige fleissig den Meeresgrund auf der Suche nach etwas Fressbarem aufwirbeln, entspannt sich der Grossteil tief vergraben im Sand, sodass lediglich die Augen und die Kiemen zu sehen sind. Gemächlich gleiten die grauen Riesen mit ihren runden Flossen weiter, sobald ich mich ihnen zu fest annähere. Langsam beginnt sich die Topografie zu ändern. Der ruhige Kanal weicht einem Labyrinth aus Korallen. Ich fülle meine Lunge mit so viel Luft als möglich und lasse mich langsam nach unten sinken. Sofort verschwindet das leichte Übelkeit hervorrufende Auf und Ab der Wellen sowie dessen Rauschen. Am Grund angekommen, umgibt mich nur noch das magische Knistern des Meeres und das kristallklare Wasser. Mit leichten Flossenschlägen beginne ich, durch ein Tal aus Korallen zu gleiten. Eine Gruppe langer, dünner Flötenfische weichen mir aus und suchen Schutz in den links und rechts von mir hochragenden Korallenblöcken. Selten habe ich so ein intaktes Riff gesehen. Riesige Fächergorgonien wehen im sanften hin und her der leichten Strömung. Wie riesige violette Hände scheinen sie nach den roten Feuerfischen zu greifen, die sich dazwischen verstecken. Hirnkorallen spriessen wie zu gross geratene Pilze aus dem Boden und heben sich farblich kaum vom sandigen Boden ab. Ganz anders als die unzähligen Weichkorallen, in denen junge Juwelen-Riffbarsche aufwachsen. Noch kaum fünf Zentimeter gross, fallen sie mit ihrer dunkelblauen Farbe und den vielen türkis leuchtenden Punkten auf wie ein heller Stern in der tiefschwarzen Nacht. Kaum anders verhält es sich mit den dunklen Riffbarschen, deren weiss-roter Körper übersät ist mit hellblauen Punkten, als hätte ein Maler seinen Pinsel über ihnen ausgeschüttelt. Ich entdecke einen kleinen Durchgang unter dem Riffdach und navigiere mich mit wenigen Flossenschlägen hindurch, bevor ich auf der anderen Seite wieder auftauche. Der noch stärker gewordene Wellengang kündigt das äussere Ende des Riffs an und wir blicken aufmerksam in das tiefe Blau des offenen Meeres, in der Hoffnung, Haie oder Mantas zu sehen. Stattdessen können wir eine Gruppe Karibischer Riffkalmare beobachten, die sich auf einer Linie durch das Wasser winden und deren fast durchsichtige Haut in allen Farben des Regenbogens schimmert. Nach einem kurzen Abstecher in den scheinbar bodenlosen Ozean paddeln wir zurück zum schützenden Korallenriff. Aufs Neue sind wir überwältigt von der Intaktheit, Farbigkeit und Artenvielfalt, zweifelsohne auch ein Resultat des Tauchverbotes sowie der spärlichen Anwesenheit des Menschen im Allgemeinen aufgrund der Abgeschiedenheit des Riffs. Gut sechshundert Meter vor unserer Insel gelegen fühlt es sich hier für einmal nicht nach zahmem Hausriff an, sondern nach echter, ungebändigter Wildnis. Als hätte die Natur meine Gedanken gehört, schwimmen uns nach kurzer Zeit zwei Weissspitzen-Riffhaie entgegen. Geschmeidig lassen sie ihre grossen Körper durch das Wasser gleiten, die tiefschwarzen Augen ständig auf uns fixiert. Unbewusst atme ich wieder etwas ruhiger, als die Raubfische an uns vorbeigezogen sind. Auch im Wissen, nicht in ihr Beuteschema zu gehören, sind die spitzen Zähne und der grimmige Gesichtsausdruck ein Respekt einflössender Anblick. Ohne Hast überqueren wir das Aussenriff, schwimmen durch den Kanal und erreichen nach einer knappen halben Stunde wieder unsere Insel. Für einmal hat der Reiseveranstalter nicht übertrieben.
Das ohrenbetäubende Donnergrollen reisst mich aus meinem leichten Schlaf. Ich spüre, wie das Leintuch unangenehm an meinem Rücken klebt. Wie schön es doch wäre, abends mit Süsswasser duschen zu können. Doch auf dieser abgelegenen Insel muss ein teilweise gefüllter Tank mit Meerwasser ausreichen. Ich hebe meinen Kopf und blicke durch die offene Balkontüre auf das Meer. Nur die Reflexion des hellen Vollmondes hebt das tiefschwarze Meer vom Himmel ab. Ein lang gezogener, bis in kleinste Äste verzweigter Blitz erhellt plötzlich die Umgebung. Das vor ein paar Stunden den knallroten Abendhimmel glatt wie ein Spiegel reflektierende Meer hat sich mittlerweile in eine wild tobende Urgewalt verwandelt. Immer wie stärker brechen die Wellen an den Stelzen unserer über dem Wasser gebauten Hütte und lassen alles beängstigend erzittern. Ich spüre, wie ein starker Wind aufzieht und über unsere Insel zu fegen beginnt. Es riecht nach Regen, viel Regen. Die Vorahnung lässt mich erschaudern und mein Körper ist übersät mit Gänsehaut. Die regelmässigen Blitze offenbaren eine riesige Wand aus Regen, die aus der Tiefe der Karibik unaufhaltsam auf uns zurollt. Nach wenigen Augenblicken hat uns das Unwetter erreicht und beginnt auf die Hütte einzudreschen. Laut wie ein furioses Schlagzeug-Solo prasseln grosse Tropfen auf das Dach. Die starken Böen peitschen riesige Regenmengen an die Holzwände, deren Latten viel zu unregelmässig sind, um nicht Unmengen an Wasser in die Hütte hereinzulassen. Bald strömen unzählige Rinnsale die Wände hinunter und beginnen sich auf dem Boden auszubreiten. Ich möchte das Licht anmachen, um die Überschwemmung zu begutachten, doch die einzige Elektrizität, die uns Gästen zur Verfügung steht, fliesst aus einer kleinen Powerbank im WC-Häuschen. So sehe ich im Schein der Handy-Taschenlampe, wie das Wasser durch die ebenso grossen Spalten im Fussboden wieder in das Meer hinuntertropft, als sei dies extra dafür so konzipiert worden. Ich werfe die wichtigsten Sachen aufs Bett und beobachte für eine Weile das beeindruckende Naturschauspiel. Als die Intensität etwas abflacht, lege ich mich wieder ins klebrige Bett, ziehe mir die feuchte Decke über den Kopf und falle in einen leichten, unruhigen Schlaf.
Vorsichtig nähere ich mich dem aussergewöhnlichen Tier. Zentimeter für Zentimeter, bis das Glas meiner Tauchermaske nur noch eine Handbreit davon entfernt ist. Meine weit aufgerissenen Augen, die dem Tier plötzlich gegenüber stehen. Wie die meisten Skorpionfische ist es sehr langsam und hat demzufolge gar keine andere Wahl, als sich vorerst mit mir auseinander zu setzen. Kaum grösser als eine Pflaume hatte ich von der Oberfläche Mühe, es als solchen zu identifizieren. Mitten im Sand auf gut fünf Metern Tiefe sah es zuerst mehr nach einem Stein aus. Erst ein auffällig buntes Glitzern liess mich innehalten und hinuntertauchen. Auf den ersten Blick hatte es starke Ähnlichkeiten mit den Teufelsfischen, die man mit viel Glück im Roten Meer zu Gesicht bekommt. Anstatt zu schwimmen, hoppelt der Fisch durch das Wasser. In einer Ruhe, die er sich nur dank der starken Giftigkeit seiner Rückenflossen erlauben kann. Mit einem Gesichtsausdruck wie ein leicht verärgerter Grossvater stösst er sich mit kleinen Füsschen ab, die man mit den langen dünnen Krallen eher einem Reptil als einem Fisch zuschreiben würde. Dabei nimmt er auch seine Brustflossen zur Hilfe und offenbart deren radial nach aussen verlaufende grelle pink-orange-rot-gelb-schwarze intensive Färbung. Ist die Flosse hingegen wieder zugeklappt, ist das Tier kaum von einem grauen Stein zu unterscheiden, an dem sich ein paar Muscheln und Algen angesetzt haben. Lediglich die leicht violetten, über den gesamten Körper verteilten Punkte heben ihn etwas vom Untergrund ab und lassen mich ihn im Nachhinein als gefleckten Skorpionfisch identifizieren. Ein Tier, dem ich noch nie begegnet bin und ein weiterer Höhepunkt der fantastischen Unterwasserwelt, die sich uns hier offenbart. Auf dieser Insel, wo man ausser schnorcheln nun wirklich nichts machen kann. Gegessen wird gemeinsam, Pancakes und mit etwas Glück frische Früchte zum Frühstück, Fleisch mit Reis zum Mittags- und Fisch mit Reis zum Abendessen. Alles jeweils zu Tode frittiert mit billigem Öl, sodass man die ganze Zeit von Bauchschmerzen geplagt ist. Wobei Schlaf für mich momentan sowieso Mangelware ist. Während tagsüber nämlich eine angenehme Bise weht, ist es nachts oft unnatürlich windstill. Ohne Ventilator bleibt somit die feuchte salzige Luft dermassen in unserer Hütte kleben, dass man kaum Luft bekommt. Doch auch auf dem Balkon ist die Situation kaum besser. So verbringe ich den Grossteil der Nächte damit, abwechselnd mich aufzuregen, diesen Ort zu verfluchen oder das Sternenmeer zu bewundern. Stets in der Hoffnung, tagsüber an einem schattigen Plätzchen etwas Schlaf nachholen zu können. Sollte nicht wieder ein Orkan über die Insel fegen, bei dem sich die Palmen beängstigend weit biegen, Kokosnüsse im Sekundentakt auf den überschwemmten sandigen Boden klatschen und man durch den dichten Regen kaum bis zum anderen Ende der Insel sieht. Das Paradies stelle ich mir freilich anders vor. Doch an der Unterwasserwelt, daran ist nun wirklich nichts auszusetzen.
Vorsicht! Folgender Abschnitt handelt in bildlicher Sprache von den Gefahren des offenen Meeres für den Menschen und wie schnell etwas passieren kann.
Das Schiffswrack gefällt uns deutlich besser, als es uns die Erzählungen der anderen Gäste erhoffen liess. Am Strand von Assudub Bibbi gelegen, ist es mit dem Boot von Yanisailadup aus in knapp zwanzig Minuten erreichbar. Dreissig Meter vom Ufer entfernt, liegt das fünfzig Meter lange und knapp zehn Meter breite barco hundido auf einer Tiefe von etwa vier Meter im seichten, klaren Wasser. Während Judith noch die am Strand aufgestellten Souvenirstände durchkämmt, beobachte ich einen Schwarm Fische, die sich im Bug des ehemaligen Frachters zu verstecken versuchen. Obwohl sich Touristen auf das knapp über Wasser ragende Ankerrad setzen oder mit den Flossen an der Seite anstossen, sind die Hartkorallen, die sich seit den 1940er-Jahren gebildet haben, noch erstaunlich intakt. Ich schaue einem kleinen Krebs zu, der zügig über das Deck krabbelt, als ich Schreie höre. Ich tauche auf und sehe, wie eine Gruppe Badende auf einen für mich hinter dem Wrack versteckten Punkt zeigen. ¿que paso? frage ich und bekomme eine Antwort in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ich schwimme etwas nach links und sehe, etwa zehn Meter südwestlich vom Wrack, einen Schwimmer in Panik. Mit schwacher werdenden Handschlägen probiert er sich über Wasser zu halten, während der Kopf nach hinten geneigt ist, um noch einigermassen durch Mund und Nase atmen zu können. Ohne zu zögern beginne ich, so schnell es mit den etwas kürzeren Schnorchelflossen möglich ist, auf ihn zuzukraulen. Ich gehe davon aus, dass andere vor mir bei ihm sein werden, liegt zwischen uns doch das Wrack, dessen Erhebungen ich ausweichen muss, sowie eine Distanz von gut vierzig Metern. Ich verliere wertvolle Sekunden, als ich bemerke, wie sich mein rechtes Flossenband durch die starken Schläge zu lösen beginnt und ich kurz innehalten muss, um es wieder festzuziehen. In wenigen Augenblicken bin ich dort, wo ich den Schwimmer zuletzt sah. Komplett ausser Atem sehe ich einen grossen Schatten auf dem Meeresgrund. Abermals verliere ich einige Sekunden, in denen ich kurz durchschnaufen muss, um sicher die etwa vier Meter hinuntertauchen zu können. Ich sehe, wie ein anderer Retter in Richtung Grund zu tauchen beginnt, als ich meine Lunge ein letztes Mal komplett mit Luft fülle und ebenfalls hinunterpaddle. Unten angekommen, eröffnet sich mir einen Anblick, der sich wie ein Foto in die Netzhaut eingebrannt hat. Bis in die weite Ferne erstreckt sich im kristallklaren Wasser der sandige Boden, aus dem in regelmässigen Abständen mittelgrosse Blöcke Hart- oder Weichkorallen spriessen und ein paar wenigen hin und her schwimmenden Fischen Schutz bieten. Ich sehe die Sonne, wie sie durch die Wasseroberfläche scheint und die kleinen Wellen weiss glitzern lässt. Dazwischen schwebt ein Mann, der sich nicht mehr bewegt. Wie eine im Meer tanzende Ballerina berührt nur eine Zehenspitze den Grund. Ohne jegliche Körperspannung biegt sich der Oberkörper unnatürlich nach hinten, die muskulöse Brust wölbt sich nach aussen und zeigt in Richtung Oberfläche, die Arme sind ausgestreckt und fallen schlaff nach unten. Die Augen sind hinter der verspiegelten Schwimmbrille versteckt, aus dem weit aufgerissenen Mund entweicht keine einzige Luftblase. Ich tauche auf den leblos anmutenden Körper zu und sehe, wie ihn eine Hand an den Haaren packt und erfolglos nach oben zu zerren probiert. Ich greife den Mann übertrieben fest am Handgelenk in der Hoffnung, dass er so wieder zu sich kommt. Natürlich passiert nichts. Ich reisse ihn zuerst nach oben und schiebe ihn anschliessend von unten hoch zur Wasseroberfläche, wo uns ein dritter Retter zur Hilfe geeilt ist. Meine Lunge beginnt zu schmerzen, ich durchbreche die Wellen und sauge gierig Luft ein. An der Oberfläche erwartete ich ein Chaos sondergleichen, doch was ich erblicke, macht mich noch viel nervöser. Die Badenden, die alarmiert hatten, sind verstummt, am Strand sonnen sich Touristen, die Boote sind vor Anker am Dock und über allem liegt eine gespenstische Stille. Als hätten sich sämtliche Probleme erledigt, sobald ein paar Leute auf einen ertrinkenden Menschen zuschwimmen. Verständnislos schreie ich ¡ayuda! in einer Lautstärke, die wohl auch am anderen Ende der gut 150 Meter langen Insel noch zu hören ist. Der Rettungsschwimmer sprintet mit Ring ausgerüstet über den Sandstrand. Ein zweites Mal schreie ich. Die ansonsten immer lachenden und gut gelaunten Jungs, die uns hierhin fuhren, rasen uns mit grimmigem Blick mit dem Boot entgegen. Ein letztes Mal rufe ich, während wir den immer noch bewusstlosen Mann zu dritt in Richtung schnell nahendem Boot zerren. Mit Flossen und Schnorchel ausgerüstet, positioniere ich mich unterhalb des Mannes und stosse ihn nach oben, wo ihn kräftige Arme hoch ins Boot hieven. Ich sehe noch, wie aus seinem Mund Blut und Erbrochenes fliessen und über seinen Bauch ins Meer plätschert, bevor er auf dem Deck aus meinem Blick verschwindet. Während jemand unverzüglich mit den Wiederbelebungsmassnahmen beginnt, dreht das Boot ab und fährt zurück zum Strand. Ich reiche den Reifen, den uns der Rettungsschwimmer zuwarf, einem Mann auf einem zweiten Boot und schwimme gemächlich ebenfalls zurück zum Strand. Ein Arzt, der zufällig als Tourist auf der Insel war, beginnt den Mann auf dem auf den Strand gefahrenen Boot zu betreuen. Um das Boot hat sich bereits eine grosse Menge schaulustiger Menschen gebildet. Beim Retten sind sie die letzten, beim Gaffen die ersten. Mir wird es zu viel und ich setze mich erschöpft an den Strand, wo sofort Judith zu mir eilt. Ich bekomme mit, wie der Mann mit dem Atmen wieder begonnen hat, dann wieder zu Bewusstsein kommt, sich etwas später aufsetzt und schlussendlich unter tobendem Applaus selbstständig aus dem Schiff steigen kann. Ich freue mich nicht. Ich bin komplett leer und ausgelaugt. Fassungslos, wie wenig Leute bei der Rettung halfen. So viele waren vor Ort, jeder dachte, da könne schon nichts passieren. So etwas geschieht schliesslich nur in Filmen, sicher nicht im wahren Leben an einem so paradiesischen Ort. Doch wie nahe der Mann am Tod vorbeischrammte, wissen nur die wenigsten. Judith probiert mir klarzumachen, dass ich ein Menschenleben rettete. Touristen kommen auf mich zu und schütteln mir die Hand. Die Jungs von unserer Insel rufen mir good job zu. Ich sehe den Mann noch kurz, wie er benommen auf seinem Boot Platz genommen hat und mit den anderen Tagestouristen zurück zum Hafen losfährt. Ich brachte mich nicht mehr dazu, ihn anzusprechen. Ich wusste nicht, was sagen. Angesichts der Ereignisse schienen Worte unbedeutend. Kurz darauf fahren auch wir zurück nach Yanisailadup. Die Überfahrt kommt mir ewig vor.
Ein letztes Mal machen wir uns auf den Weg zum Aussenriff. Vorbei an einer Gruppe südlicher Stechrochen, die genauso gross wie die mit ihnen verwandten karibischen Stechrochen sind, doch mit ihren spitz zulaufenden Flossen leicht von ihnen unterschieden werden können. In der Ferne erkennen wir die Umrisse des jungen Ammenhais, der uns jeweils spätabends beim Betrachten der fantastischen, farbintensiven Sonnenuntergänge beim Steg stumme Gesellschaft leistet. Doch statt auf den Hai zuschwimmen zu können, schneidet uns ein übertrieben territorialer Drückerfisch den Weg ab und begleitet uns bestimmt und mit immer gleich bleibendem Abstand zum Aussenriff. Wir lassen uns gedankenverloren von den Wellen hin und her stossen, als vor uns ein gefleckter Adlerrochen durch das Wasser fliegt. Mit einer Spannweite von bis zu sieben Metern gehört das schwarze Tier mit den weissen Punkten und spitz zulaufenden Flossen zusammen mit dem Manta zu den majestätischsten Rochen. Scheinbar mühelos gleitet er mit wenigen Flossenschlägen über das wilde Riff und lässt sich durch unsere Anwesenheit nicht im Geringsten stören. Ein letztes Mal tauchen wir im glasklaren Wasser durch Täler zwischen Hügeln aus Korallen, vorbei an Weissspitzen-Riffhaien, die sich in kleinen von dicken roten Seesternen bewohnten Höhlen und Nischen ausruhen. Zwischen zwei Steinen steckt ein Goldtupfen-Schlangenaal seinen Kopf heraus und beobachtet uns, während sein mit dunkeln Ringen überzogener gelber Körper goldig glänzt. Im Kanal findet unser Ausflug sein unrühmliches, wenn auch passendes Ende. Auf dem sandigen Boden, teilweise verdeckt mit abgestorbenem Seegras, liegt ein toter Hai. Mit weit aufgerissenen Augen liegt er da, als hätte er sich nur schnell auf die Seite gelegt. Kaum grösser als mein Unterarm, lediglich ein Baby. Wir finden keine äusseren Verletzungen und können über die Todesursache nur spekulieren. Ohne es zu wollen, tauchen wieder die Bilder vom bewusstlosen Schwimmer vor meinem inneren Auge auf. Wie nahe das Leben und der Tod doch bei einander sein können. Wie schnell die Grenze überschritten werden kann. Und wie natürlich es eigentlich ist. Mein Brustkorb zieht sich zusammen und ich kriege kaum Luft. Als uns das Boot wenige Stunden später abholt, um uns zurück auf das Festland zu bringen, freue ich mich, Yanisailadup zu verlassen. Trotz der fantastischen Unterwasserwelt.
Die Rückreise war gut organisiert und frei von Aufreger. Mit dem Boot zurück in den Hafen, wo der Jeep mit Allradantrieb und übertrieben freundlichem Fahrer schon auf uns wartete. Durch die Passkontrolle und danach auf der Panamericana zurück in die Hauptstadt. Ankunft kurz nach Sonnenuntergang im selben Airbnb, das wir vor einer knappen Woche schon gebucht hatten. Ausflug in die Albrook Mall am nächsten Tag. Kauf von Flipflops, nachdem mich ausgetretene, mit Kabelbindern reparierte Fila-Badeschlappen eines anderen Volunteers im Surfcamp seit Dezember täglich begleitet hatten. Neue Sportsocken, da meine alten mittlerweile mehr aus Löchern als aus Stoff bestehen. Und nicht zuletzt eine Handvoll Souvenirs für Familie und Freunde. Sich von Gegenständen trennen, die sich überflüssigerweise angesammelt haben und die Rucksäcke abgabefertig packen. Die letzte Fahrt mit der stickigen Metro quer durch die halbe Stadt und das Boarding in den riesigen Flieger nach Paris. Leckeres Essen auf 11'000 Meter über Meer, einigermassen interessante Filme und etwas Schlaf. Transit nach Basel, Entgegennahme des Gepäcks und mit dem Bus an den Hauptbahnhof. Nach sechs Monaten plötzlich wieder in der Schweiz. Wo man im Strassenverkehr mehr Velos als Autos sieht. Kebabläden und Ausländer die Gassen säumen. Und gefühlt jeder zweite eine Zigarette im Mundwinkel hat. Weiter in einem Zug, der leise auf ruckelfreien Schienen in Richtung Luzern gleitet. Zurück in eine Heimat, die mir fremd scheint.
Florian Zeiter 2022-2023
Zuletzt geändert am 17. März 2024